Kennst du Wilhelm Tell? Ja, natürlich. Unsere Schulbücher erzählen uns die Geschichte unseres Freiheitshelden. Die Bibliotheken sind voll mit Werken über unsere Titanen des Kriegshandwerkes, der Politik, der Malerei, der Literatur, der Musik oder der Forschung. Die eigene Geschichte zu kennen ist wichtig. Sie dient nur zu oft den Regierenden als Legitimation ihrer Macht. Sie gibt einer Sache Kraft und Bedeutung. Und sie kann ein Geschäft sein.
Nur unser Sport hat das bis heute nicht begriffen. In kaum einem anderen Land hat der Sport eine so vielfältige, ruhmreiche Geschichte wie in der Schweiz. Diese Geschichte könnte ein riesiges politisches und kommerzielles Kapital sein. Aber fast niemand kennt und pflegt unsere sportliche Vergangenheit. Wir haben keine richtige sportliche Erinnerungskultur.
Die meisten wissen, dass Adrian von Bubenberg in fernen Zeiten der heldenhafte Verteidiger von Murten war. Das lernen wir in der Schule. Aber kaum mehr jemand kennt heute noch René Kiener, den heldenhaften Verteidiger des Tores im ersten SCB-Meisterteam. Den Namen Jörg Jenatsch lernen die Kinder in Graubünden im Geschichtsunterricht. Aber von Bibi Torriani hören sie nichts. Über Ulrich Zwingli gibt es sogar einen Kino-Film. Aber welcher Zürcher erinnert sich noch an Karl Oberholzer, den erfolgreichsten Präsidenten der GC-Fussballgeschichte?
Über die Katastrophe von Marignano (1515), die uns den Status einer europäischen Grossmacht kostete, hat Markus Somm noch 2015 ein über 300-seitiges Buch geschrieben. Aber vergessen ist die ruhmreichste Niederlage unserer Fussballhistorie am 26. Juni 1954 im WM-Viertelfinal zu Lausanne gegen Österreich (5:7) nach einer 3:0-Führung. Sie brachte uns wahrscheinlich – aber nur wahrscheinlich – um den WM-Titel.
Unser Sport kümmert sich nur um die Helden der Gegenwart. Der grösste Unterschied zwischen dem Sport in Nordamerika und in der Schweiz ist die Hege und Pflege der eigenen Geschichte. Darum ist der Profi-Sport in Nordamerika so viel wichtiger und wirtschaftlich erfolgreicher als bei uns.
Im nordamerikanischen Sport gibt es weder in den USA noch in Kanada das «soziale Netz» des Vereinswesens. Profisport muss sich rechnen, sonst geht er unter. Sportteams, die rote Zahlen schreiben, werden von einem Tag auf den anderen in eine andere Stadt verlegt. Sogar Quebec hat sein NHL-Team verloren und Winnipeg musste jahrelang um die Rückkehr der Jets kämpfen. Los Angeles, die Unterhaltungs-Hauptstadt der Welt, war 20 Jahre lang ohne NFL-Football-Team. Ganze Ligen werden aufgelöst, wenn das Geschäft nicht brummt.
Die Pflege und Verehrung der Helden von gestern ist ein zentraler Punkt der nordamerikanischen Sportindustrie. Der Glanz der Vergangenheit hilft oft, eine triste Gegenwart zu erhellen. In Toronto ist die «Hall of Fame», die Ruhmeshalle des Eishockeys, eine Touristenattraktion. In der Schweiz haben wir kein Eishockey-Museum. Das Schweizer Sportmuseum musste im September 2018 schliessen. Kasse leer, weil die Gelder von Bund und dem Kanton Basel-Stadt ausblieben.
In jeder Buchhandlung in Nordamerika gibt es eine «Sport Section». Die Biographien alleine über die Heroen des nordamerikanischen und des internationalen Hockeys füllen Bibliotheken. Mehr als 30 stehen inzwischen bei mir im Büchergestell. Von Derek Sanderson bis Wayne Gretzky, von Mike Keenan bis Scotty Bowman, von Jacques Plante bis Patrick Roy.
Bei uns lassen sich gute Sport-Biographien an einer Hand abzählen. Die Erinnerungen verblassen zu schnell. Viel zu selten entrinnt eine unserer Sportgrössen der Vergessenheit.
Auch an dieser Erinnerungskultur lässt sich erkennen: Sport ist in Nordamerika in jeder Beziehung wichtig und Big Business. Weil eben nur wichtig ist, wer eine Geschichte hat, wer sich dieser Geschichte bewusst ist, wer sie hegt und pflegt und wer dafür sorgt, dass sie nicht vergessen wird.
Vor dem Stadion in Chicago steht eine Statue mit den Namen aller Blackhawks. Auch jener von Reto von Arx. Er hat nur 19 Partien den Dress der Blackhawks getragen. Für den HC Davos hat er mehr als 1000 Spiele bestritten und sechs Titel geholt. Bis heute habe ich rund ums HCD-Stadion nichts gefunden, das an den Kultspieler erinnert.
Wer kennt noch René Botteron, den ersten Popstar unseres Fussballs mit wehendem Haar, der erste Schweizer, der in einem Endspiel eines europäischen Wettbewerbs eingesetzt worden ist (1981, Standard Lüttich)? Vergessen ist FCZ-Star Rosario Martinelli, der schon in den 1960er Jahren als Berufsbezeichnung «Dressman bei Zweidler» angab. Zweidler war ein Kult-Modegeschäft an der Langstrasse 117 und an der Niederdorfstrasse 50 in Zürich. Wem sagt der Name Ernst B. Thommen noch etwas? Er hat in unserem Fussball mehr bewegt als Sepp Blatter, holte die Fussball-WM 1954 in die Schweiz und orchestrierte sie als OK-Boss.
Wer weiss noch, dass der charismatische Film-Schauspieler Hannes Schmidhauser auch Captain der Fussballnationalmannschaft war? Wem ist der Name Roger Staub ein Begriff? Der Riesenslalom-Olympiasieger von 1960 kreierte später die legendäre «Roger-Staub-Mütze», eine Kappe zum Skifahren, die den ganzen Kopf bedeckte und nur die Augen offen liess.
In Kanada ist Eishockey als Nationalsport in der Verfassung festgeschrieben. Das haben wir noch nicht einmal mit dem Schwingen, Hornussen oder dem Skisport geschafft. Die «Summit Series» von 1972, die erste Konfrontation der NHL-Profis mit den sowjetischen Stars gehört heute so zu Kanadas Geschichte wie der Rütlischwur zur Historie der Eidgenossenschaft.
Nun entdecken wir in Zeiten der Virus-Krise gerade zum ersten Mal unsere sportliche Vergangenheit. Weil es zum ersten Mal keine Gegenwart mehr gibt. Sogar das staatstragende Fernsehen blickt zur besten Sendezeit auf die Playoffs der letzten Jahre und legendäre Fussballspiele zurück.
Nun mag man einwenden: Aber halt, was soll die Polemik! Wir erinnern uns sehr wohl an unsere sportlichen Helden! Denken Sie doch an Bernhard Russi! Über den gibt es sogar mehrere Bücher! Den kennt doch jedes Kind!
Ja, gewiss. Aber er ist für die Millennials kein Held des Sports. Sondern eine Lichtgestalt der Werbeindustrie. Kürzlich bekam ich auf meine Frage, wer Bernhard Russi eigentlich sei zur Antwort: Ach, das ist doch dieser Dressman für Brillen, oder?