Gibt es eine objektive Beurteilung eines Spiels? Nein, natürlich nicht. Jedes Urteil wird beeinflusst durch das Wissen, was vorher war.
Vorher, also vor der Partie in Biel, war Krise beim HCD. Eine der meistbeschriebenen, meistanalysierten, meistkommentierten und meistdramatisierten Krisen seit Einführung der Playoffs (Saison 1985/86). Und über allen Wipfeln die Frage: Ist die Zeit von Arno Del Curto nach 22 Jahren abgelaufen?
Aber einer fragt in Biel schon in der ersten Pause – es steht noch 2:1 für Biel – erstaunt: «Krise? Davos in der Krise?»
So fragt ein grosser und in dieser Sache gewiss objektiver Hockey-Kenner. Dan Bouchard (67). Die NHL-Goalie-Legende, die 1986/87 für Gottéron spielte, ist wieder mal zu Besuch. Die ganze Polemik rund um Davos hat er natürlich nicht mitbekommen. Er sieht nur dieses eine Spiel. Er ist vom Tempo und dem Biss der Davoser beeindruckt und favorisiert bereits in der ersten Pause den HCD.
Und siehe da: Es wird tatsächlich ein grosser, ein verdienter Sieg. Dino Wieser wird hinterher sagen, es sei wohl die beste HCD-Partie dieser Saison gewesen.
Es ist darüber hinaus eine Reise zurück in die Zeit, als der HCD die Liga dominierte und Arno Del Curto der Grösste von allen war. Es ist auch eine Reise zurück in die Zeit, als Kevin Schläpfer noch «Hockey-Gott» in Biel war.
Oder ein bisschen polemischer: Der HCD zelebrierte «Arno-Hockey», als sei da noch nie etwas aus den Fugen geraten. Und Biel «Kevin-Schläpfer-Hockey», als sei Biel noch lange kein Spitzenteam.
Eine Szene, die für diese These steht: Biel gelingt in der 47. Minute endlich, endlich der Ausgleich zum 3:3. Die Wende? Nein. Der Treffer wird annulliert. Die Bieler stürmten zu wild. Zu viele Spieler auf dem Eis. Was gleich noch eine Zweiminuten-Strafe nach sich zieht. Den Ausschluss nützt Luca Hischier, der grosse Bruder des grossen Nico Hischier, zum 4:2. Die Entscheidung.
Was ist in Biel vorgefallen? Wie kann es sein, dass der Tabellenführer nacheinander gegen das Schlusslicht (4:5 n.V. gegen die Lakers) und den Zweitletzten Davos verliert? Sportchef Martin Steinegger bringt es schon in der zweiten Pause auf den Punkt: «Sie laufen zu wenig.»
Ist es so einfach? Ja, es ist so einfach, weil die Bieler tatsächlich zu wenig laufen. Für den Zuschauer von blossem Auge nicht gleich zu erkennen. Die Bieler sind ja nicht etwa faul oder nachlässig. Aber wenn die Scheibe auch nur Sekundenbruchteile zu lange geführt wird, wenn die Pässe in die Tiefe des freien Raumes um einen Lidschlag zu spät gespielt werden, dann funktioniert das dynamische, mitreissende, präzise Tempospiel nicht mehr richtig.
Ja, es ist so einfach, weil die Davoser diese kleinen, entscheidenden Verzögerungen im Spiel provozieren. Sie spielen einfach, fächern im Scheibenbesitz blitzschnell aus, und weil sie im Zweikampf so aggressiv und hartnäckig sind, nehmen sie den Bielern immer wieder den Puck ab. Sie sind in allen drei Zonen so bissig, dass Biel ab «Halbzeit» nicht einmal mehr im Powerplay Ruhe, Zeit und Raum für sein Spiel findet. Sie sind so entschlossen, dass sie sich weder durch das Fehlen von Enzo Corvi (Gehirnerschütterung) noch durch den Fehlstart beeindrucken lassen.
Die Ursache für das überraschende Resultat ist also eher ein grosser HC Davos als ein kleines Biel. Bereits nach 19 Sekunden muss Marc Wieser nach einem Check in den Rücken von Samuel Kreis unter die Dusche. Aus der Fünfminuten-Strafe macht Biel das 1:0. Aber selbst nach dem 2:0 fällt der HCD nicht auseinander. Zeigt keine Anzeichen von Schwäche, Panik oder Zweifel. Torhüter Anders Lindbäck beschliesst nach dem 2:0, nun keinen Treffer mehr zuzulassen. Ein verrückter Goalie. Entweder lottert oder zaubert er. Aber nichts dazwischen.
Dino Wieser personifiziert die ungebrochene Zuversicht der Davoser. Nach dem Spiel wird er sagen, manchmal sei ein Rückschlag gleich zu Beginn gar nicht schlecht. Der Fünfminuten-Ausschluss habe gleich jeden zu viel Laufarbeit gezwungen. «Da sind wir wach geworden.»
Die Steigerung seit der dienstäglichen 1:6-Demütigung in Fribourg ist erstaunlich: am Freitag «nur» noch 0:1 gegen Lausanne und nun 24 Stunden später 7:2 in Biel. Dino Wieser sagt, nach dem Gottéron-Debakel sei man zusammengesessen. Was gesprochen worden ist, wer was gesagt hat, verrät er nicht. «Das bleibt in der Kabine.» Item, gewirkt hat es.
In Fribourg war Perttu Lindgren noch nicht dabei. Gegen Lausanne kehrt der finnische Stürmer ins Team zurück. In Biel ist er der Leitwolf eines erstaunlichen Kollektivs mit sieben verschiedenen Torschützen.
Es ist erst seine elfte Partie in dieser Saison, der Treffer zum 2:2 sein erstes Saisontor. Acht Spiele hat er wegen gesundheitlicher Probleme gefehlt.
Was wäre, wenn er immer hätte spielen können? Eine interessante Frage. Er sagt nämlich: «Ich war diese Saison immer gesund und einsatzfähig.» Immer gesund? «Ja.» Und warum spielte er nicht? «Ich weiss es nicht.»
Hockey in den Bergen ist für Flachländer halt nicht immer leicht zu durchschauen. Die Partie in Fribourg war ja auch die letzte für Shane Prince (26). Weshalb der HCD in Biel nur mit drei Ausländern angetreten ist.
Der Amerikaner begründete offiziell seinen Wunsch um sofortige Auflösung des Vertrages so: «Mein Ziel ist es, noch in dieser Saison in die NHL zurückzukehren. Um dies zu erreichen, will ich mich einer NHL-Organisation in Nordamerika anschliessen.»
Die ganze Wahrheit ist das wohl auch nicht. Perttu Lindgren sagt nämlich: «Er ist mit dem Lebensstil und dem Hockey ganz allgemein nicht zurechtgekommen.» Tja, ein «Zeuge Del Curtos» zu sein, ist eben anspruchsvoll.
Wir haben nun allerlei Erklärungen gehört. Aber eigentlich ist es ganz einfach: Das 1:6 in Fribourg war die Niederlage zu viel. Sie hat die Davoser im Stolz verletzt, und dieser verletzte Stolz hat den HCD auf die Landkarte zurückgebracht.
Wenn auf verletzten Stolz eine heftige Reaktion erfolgt, dann lebt eine Mannschaft. Wir wissen jetzt: In Davos ist die letzte Hockey-Messe unter Arno Del Curto noch nicht gelesen.