Aller Anfang ist schwer. So banal, so wahr. Zum fünften Mal hintereinander haben wir bei der WM im Startspiel enttäuscht. Ja, seit der Silber-WM 2013 hat die Schweiz nie mehr das erste Spiel nach 60 Minuten gewonnen.
Die Fehlstarts haben also Tradition. Auffallend, dass wir unter Patrick Fischer bisher nur Fehlstarts hatten – bei der WM 2016 und 2017, beim Olympischen Turnier 2018 – und nun gegen Österreich.
Nun mag es reichlich respektlos sein, Österreich als Operetten-Team zu bezeichnen. Der Chronist entschuldigt sich dafür. Aber wenn wir ganz unpolemisch bloss die Fakten betrachten – dann ist es klar: Dieser Punktverlust ist eine Blamage. Österreich ist der Aufsteiger. Die Nummer 17 der Welt (Schweiz Nr. 8) und ohne einen einzigen NHL-Star. Mit 9500 lizenzierten Spielern (Schweiz: 26'600) und 40 Eishallen (Schweiz: 111).
Warum dann diese Schwierigkeiten? Es spielt eine Rolle, dass die Operetten-Teams am Anfang des Turniers noch bei Kräften sind und mit dem Mut des Aussenseiters über sich hinauswachsen. Erst recht, wenn sie exzellent gecoacht sind wie die Österreicher mit Nationaltrainer Roger Bader. Es ist einfacher, gegen Russland oder Kanada als gegen Österreich spektakuläre Spielzüge aufs Eis zu zaubern.
Aber es spielt auch eine Rolle, dass Nationaltrainer Patrick Fischer, der grosse Zauberlehrling, Kommunikator und Motivator, die Geister, die er ruft, meist nicht mehr unter Kontrolle bringt. Oder polemisch formuliert: Wir haben hier in Kopenhagen die Spieler fürs Halbfinale und den Coach für den Abstieg.
Das mag nun ein bisschen übertrieben sein, zeigt aber Glanz und Elend unserer Nationalmannschaft ziemlich treffend. Wir können an dieser WM noch sehr weit kommen. Es ist das beste WM-Team seit der Silber-WM von 2013.
Die Nordamerikaner haben für unsere Situation einen vortrefflichen Spruch: «All the tools, but no tool box». Will holprig übersetzt heissen: Alle Werkzeuge sind vorhanden, aber es fehlt der Werkzeugkasten.
Wahrlich, wir haben alles fürs WM-Halbfinale. Die Mannschaft ist hochmotiviert, jung, dynamisch, robust und talentiert. Sie ist abgesichert von zwei sehr guten Goalies (Reto Berra und Leonardo Genoni) und vorne haben wir mit Enzo Corvi und Nino Niederreiter ein Traumduo, das sich gegen jeden Gegner der Welt durchsetzen kann. Die beiden haben uns soeben gegen Österreich vor der totalen Blamage gerettet. Nino Niederreiter jagte den Puck nach einem göttlichen Rückpass von Enzo Corvi zum 1:0 ins Netz und Enzo Corvi überlistete Weltklasse-Torhüter Bernhard Starkbaum in der Verlängerung zum Sieg.
Aber zwischen dem 1:0 und dem 3:2 haben wir ein wildes Spiel gesehen, typisch halt, wenn der Coach zwar anheizen, aber dann nicht mehr kontrollieren kann. Ein Zauberlehrling eben. Aber immerhin ein charismatischer.
Die erste Strafe kassieren die Schweizer– wie könnte es anders sein – durch eine Bankstrafe (zu viele Spieler auf dem Eis). Und nach dem 2:0 stehen die Zeichen auf sicherem Sieg. Nun ist die Zeit für den Bandengeneral gekommen, Ruhe und Struktur ins Spiel zu bringen und in stillen Gewässern den Sieg nach Hause zu segeln.
Aber dazu ist Patrick Fischer nicht in der Lage. Item, in der 32. Minute dreht Sven Andrighetto durch. Einen anderen Ausdruck als «durchdrehen» gibt es für diese Aktion nicht. Er zerfetzt mit einem Kniestich das Knie von Steven Strong. Nationaltrainer Roger Bader wird nachdem Spiel sagen: «Er wird monatelang ausfallen. Nach einer ersten Untersuchung hat unser Arzt gerissene Seitenbänder und gerissene Kreuzbänder diagnostiziert.» Die logische Konsequenz: Fünf Minuten plus Restausschluss. Das Powerplay nützt Ambris Dominic Zwerger, der Nino Niederreiter der Österreicher, zum 1:2-Anschlusstreffer.
#SUIvsAUT After a massive hit on @hockeyaustria's Steven Strong, @SwissIceHockey's Andrighetto is thrown out of the game.
— IIHF (@IIHFHockey) 5. Mai 2018
Strong leaves the ice on a stretcher. pic.twitter.com/2OVvHCHXCt
Die Schweizer geraten aus dem Tritt und wieder und wieder bringen sie sich durch Fehler in Not, die eine gut gecoachte Mannschaft auf diesem Niveau einfach nicht macht.
Der taktische Larifari-Betrieb hat früh begonnen. Schon beim Stande von 0:0 verliert Gregory Hofmann im Powerplay als hinterster Mann den Puck gegen Dominic Zwerger und es braucht eine Grosstat von Leonardo Genoni, um einen Rückstand zu verhindern. Der Ausgleich zum 2:2 fällt logischerweise nach einem spektakulären Scheibenverlust von Dean Kukan hinter dem eigenen Tor.
Aber diese Mannschaft ist intakt, der uralte, einst für das österreichische Heer zu den Zeiten Napoleons kreierte Spruch «Löwen, geführt von Eseln» gilt mehr denn je für unser WM-Team. Am Ende setzen sich Wille, Mut, Talent und Wucht zum Siegestreffer in der Verlängerung doch durch.
Patrick Fischer hat also recht, wenn er seine Mannschaft lobt. «Kompliment an die Mannschaft, wir sind sehr gut ins Spiel gestartet. Es sind doch viele junge Spieler dabei. Wir haben viele Chancen kreiert. Nach dem 2:1 war das Spiel wieder offen und wir haben es verpasst, das 3:1 zu erzielen. Schlussendlich haben wir verdient gewonnen.»
Wir hatten einst unter Ralph Krueger und Sean Simpson ein exzellentes Powerplay und Boxplay. Wir waren einst, als wir halb so viele international taugliche Spieler wie heute und mit Mark Streit nur einen Feldspieler in der NHL hatten, bei WM-Turnieren die taktisch beste und bestgecoachte Mannschaft.
Das Spiel in Über- und Unterzahl ist längst durchschnittlich geworden. Taktisch gehören wir zu den buntesten, spektakulärsten Teams auf diesem Niveau. Wir zelebrieren wildes, mutiges, spektakuläres Offensivhockey. Leider geht oft die Balance zwischen Offensive und Defensive verloren. Bei 41:19 Torschüssen darf gegen einen Aufsteiger kein Punkt verloren gehen.
Item, es ist jetzt in Kopenhagen nicht anders als bei den vorangegangenen Turnieren unter Patrick Fischer. Gegen die Grossen ist es einfacher, eine spielerische Linie zu finden – wir können uns dann am System des Gegners orientieren.
Wer die Schweiz nach dem blamablen Startspiel abschreibt, macht einen schweren Fehler. Diese Spieler sind zu allem fähig, sie können bis zu einer Medaille stürmen. Die Geister, die Patrick Fischer gerufen hat, können eben auch beflügeln und vorwärtstreiben, bis ins Halbfinale, bis zu einer Medaille – und dann ist der «Zauberlehrling» ein Zauberer. Spieler können manchmal kleine Coaches gross machen.
Ob es tatsächlich eine grosse WM wird oder doch ein «Knorz», könnte sich zu einem grossen Teil bereits im zweiten Spiel am Sonntagabend gegen die Slowakei entscheiden. Für die Viertelfinals braucht es mindestens Platz 4. Schweden, Russland und Tschechien sind wohl gesetzt. Den vierten Rang dürften die Schweiz und die Slowakei untereinander ausmachen.
Auf den ersten Blick eine schier aussichtslose Sache. Wir spielen zwar in Ermangelung grosser Gegner während der Saison ständig gegen die Slowaken, bisher sind es seit 1994 sage und schreibe 67 Partien. Im Rahmen einer WM haben wir bisher jedoch lediglich sechs Mal gegen den «kleinen Bruder» der Tschechen gespielt – und nie gewonnen.
Es ist Zeit für den ersten Sieg. Die Slowakei hat bei weitem nicht mehr die Qualität der frühen Jahre, als sie nach der Auflösung der Tschechoslowakei 1994 hockeypolitisch eigenständig wurde und von der Hockeykultur der CSSR zehren konnte. Der Weltmeister von 2002 ist in der Weltrangliste nur noch die Nummer 10. Aber ein starker Gegner sind die Slowaken immer noch und sicher kein Operetten-Team.