Seit dem Wiederaufstieg von 1982 ist Lugano in seinem Selbstverständnis, aber auch in der Wahrnehmung der Konkurrenz auf der Alpen-Nordseite «grande».
Die grössten Namen und höchsten Saläre. Titel und Triumphe, Eishockey unter Palmen.
An dieser Einschätzung ändert auch die vergebliche Jagd nach neuem Ruhm nichts. Seit dem 7. und bisher letzten Titel von 2006 hat Lugano zweimal die Playoffs verpasst.
Aber Lugano hat in den letzten Jahren unter diesem Image gelitten. Die kluge Präsidentin Vicky Mantegazza will es ändern. Sie hat längst erkannt, dass Geld ohne Geist im Mannschaftssport nicht funktioniert.
Ihr zentrales Anliegen: Sie will eine Mannschaft mit Spielern, die sich mit dem Klub identifizieren und nicht mehr solche, die das gute Leben unter Palmen und das grosse Geld suchen. Sie hat ihrem Klub deshalb den grössten Umbruch seiner neueren Geschichte verordnet.
Die neue Ausrichtung führt erst einmal zurück zur Bescheidenheit. Freiwillig. Die Präsidentin ist Milliardärin. Lugano könnte ja jeden Spieler «kaufen». Aber Geld soll eben – wie in Ambri – nicht mehr die zentrale Bedeutung haben.
Mit etwas Boshaftigkeit können wir sagen: Lugano kopiert Ambri. Was nicht einer gewissen Ironie entbehrt.
Einst ist Ambri in eine tiefe Krise gestürzt, weil es «grande», gross und meisterlich wie Lugano werden wollte. Erst die Rückkehr zur Bescheidenheit, zu den wahren Werten der Leventina, hat Ambri gerettet und letzte Saison in die Playoffs zurückgebracht.
Kann Lugano werden wie Ambri? Oder ist Lugano dazu verurteilt «grande» zu sein? Heisst es nicht im Buch der Bücher, es sei einfacher für ein Kamel durch ein Nadelöhr zu schlüpfen, als für die Reichen und Hoffärtigen ins Himmelsreich zu kommen? Aufs Eishockey übertragen: Es ist einfacher für ein Kamel durch ein Nadelöhr zu schlüpfen, als in Lugano dauerhaft und erfolgreich bescheiden zu sein. Die «Operation Bescheidenheit» ist jedenfalls eines der interessantesten Experimente in der neueren Geschichte unseres Hockeys.
Ja. Aber wir müssen etwas genauer hinschauen um es zu sehen. Dass wieder einmal ein neuer Trainer (Sami Kapanen) an der Bande steht, ist nicht ungewöhnlich. Lugano hat seit dem letzten Titel von 2006 oft den Trainer gewechselt, manchmal auch während der Saison.
Dass der notorisch erfolglose Sportchef Roland Habisreutinger nach zehn Jahren ohne Titel den Schreibtisch räumen musste und durch Hnat Domenichelli ersetzt worden ist, und dass Torhüter Elvis Merzlikins das Abenteuer NHL wagt, ist den Gesetzen dieses Geschäftes geschuldet.
Es ist ein anderer Wechsel, der uns das neue Lugano zeigt. Obwohl die Fans letzte Saison in einem Spruchband gefordert hatten, sie solle das Portemonnaie öffnen (welch eine Frechheit!), hat Vicky Mantegazza bei Grégory Hofmann auf ein Salär-Wettbieten verzichtet und ihn nach Zug ziehen lassen. Das wäre vor ein paar Jahren undenkbar gewesen und hätte dem Selbstverständnis des «Grande Lugano» widersprochen.
Der charismatische Publikumsliebling und beste Torschütze der Liga (letzte Saison 30 Tore) und WM-Silberheld von 2018 ist durch Zugs Reto Suri ersetzt worden, der nicht in erster Linie für Tore steht (letzte Saison 18). Sondern für vorbildliche Arbeitseinstellung, Leitwolfqualitäten, intensives Spiel und Leidenschaft. Bei der ersten Direktbegegnung am letzten Samstag hat keiner von beiden für seinen neuen Arbeitgeber getroffen.
Entsprechend ist Lugano mit zwei Heimniederlagen gegen Lausanne (2:5) und Davos (2:3) gestartet und es zeichnet sich ab, dass erst einmal die Playoffs das Ziel sein müssen. Das ist eben wahre, gelebte Bescheidenheit.
Aber es wäre grob fahrlässig, dieses neue, demütige Lugano nun zu unterschätzen.
In Zug hat Lugano den ersten Punkt geholt (2:3 n.P) und dabei eine erstaunliche Leistung gezeigt. Ja, wir haben tatsächlich ein neues, ein anderes Lugano gesehen: Mutig, engagiert, leidenschaftlich. Sozusagen ein «Ambri des reichen Mannes.»
Der neue Sportchef Hnat Domenichelli gehört zu den wenigen Klubgenerälen mit Sinn für Selbstironie und Humor. Er hat kürzlich einen Chronisten, der dafür bekannt ist, dass er gerne gegen Lugano polemisiert, spasseshalber gefragt, was denn der Sportchef tun müsse, um mit Lugano Erfolg zu haben. Die Aufzählung (guter Goalie, mindestens drei gute Ausländer etc.), die auch jeder Zuschauer im Stadion so machen würde, hat er mit ernster Miene um einen Punkt ergänzt: «Spieler, die mit Leidenschaft unseren Dress tragen.»
Dazu passt, dass seine erste «Personal-Massnahme» nicht das Engagement eines zusätzlichen Ausländers ist. Ab Mitte Oktober bis Ende Saison kommt einer der bekanntesten Sportpsychologen der Welt, um in Lugano Trend die inneren Werte zu verstärken: Dr. Saul L. Miller. Eine grosse Nummer.
Er hat mehrere Bücher über Sportpsychologie geschrieben. Typische amerikanische Ratgeber, die vermeintlich Banales in grosse Zusammenhänge stellen und gerade deshalb zum Lichte der Erkenntnis führen können. Seine Bücher lesen sich leicht und haben auch einen gewissen Erkenntnis- und einen noch grösseren Unterhaltungswert.
Seine Reise nach Lugano ist keine Sensation. Der Kanadier ist einst über seinen Freund Larry Huras in die Schweiz gekommen und hat Gefallen an unserer Sportkultur, unserer Lebensart und unserem Land gefunden.
Er kennt unser Hockey durch frühere Beratertätigkeiten in Lugano (also Lugano noch «grande» sein wollte), Bern und Zug, aber auch für unsere Nationalmannschaft und dem U 20-WM-Team sehr gut. Auf seiner Homepage prangt als Referenz das SCB-Klublogo. Er war mit den Bernern Meister. Wenn er nun nach Lugano kommt, so ist es fast eine Heimkehr.
Der freundliche ältere Herr mit einer gesunden Portion Eitelkeit ist ein überaus angenehmer Zeitgenosse, der sich nicht in den Vordergrund drängt und im Klub eher umgeht wie ein geheimnisvoller Magier, fast wie ein Phantom.
Wir sollten die Wirkung von «Motivations-Voodoo» nicht überschätzen. Aber eben auch nicht unterschätzen. Und sein Engagement passt ja wunderbar zur neuen Philosophie der Bescheidenheit, zur neuen Bedeutung der inneren Werte in Lugano.
Der Chronist hat nun mit vielen Worten und viele Zeilen über Luganos neuen Weg, über das «Experiment Bescheidenheit» berichtet. Die Frage, ob dieses neue Lugano erfolgreich sein wird, kann er hingegen in einem Satz mit fünf Wörtern beantworten: Ja, mit einem besseren Torhüter.
Schon Dave King, der legendäre kanadische Hockey-Lehrer, Hockey-Philosoph und Hockey-Coach mit Erfahrung an der Bande in der NHL und der KHL, pflegte seine Referate mit einem Satz zu beenden: «Meine Herren, wenn Sie keinen guten Torhüter zur Verfügung haben, dann vergessen Sie alles, was Sie soeben gehört haben.»
So einfach ist es. Sandro Zurkirchen (29) ist statistisch mit einer Fangquote von 88,90 Prozent nur die Nummer 15 der Liga. Ein guter Goalie. Aber ein grosser Goalie war er noch nie. Und Stefan Müller (23) ist ein österreichischer Operetten-Torhüter mit Schweizer Lizenz. Gerade gut genug für die Swiss League. Er sollte eigentlich bei den Ticino Rockets spielen. Keine Konkurrenz für Sandro Zurkirchen.
Selbst wenn wir davon ausgehen, dass Doktor Miller die beiden Goalies etwas besser machen wird, dürfen wir mit leiser Lust zur Polemik sagen: Kein anderes Team der Liga ist auf der Torhüterposition so schwach besetzt wie Lugano.
Ein guter ausländischer Torhüter würde Lugano gut tun. Das Gesicht würde das Management dabei nicht verlieren. Ambri hat ja auch einen ausländischen Goalie.
Ansonsten hat eine Mannschaft wieder erwarten schon zweimal zu Null gespielt. Dort lottert weder die Verteidigung noch der Goalie. Ein Bericht über Rappi wär da angebracht.