Eine Episode erklärt uns ein wenig, wie Raëto Raffainer tickt. «Nein, ganz sicher verlasse ich Davos nicht. Nein, ich werde auf gar keinen Fall Sportchef beim SCB». Das sagte er am Dienstagmittag. Angesprochen auf einen entsprechenden Tipp aus dem inneren SCB-Kreis.
Was lernen wir daraus? Dass Lügen eine lässliche Sünde ist, wenn sie der Sache dient. Nur wer diese Kunst beherrscht, kann eine Führungsfunktion im Sport erfolgreich ausüben. Ziemlich genau 24 Stunden später ist Raëto Raffainer nun beim SCB «Chief Sport Offizier». Was wörtlich übersetzt tatsächlich Sportchef heisst.
Der 39-jährige Engadiner ist die perfekte Lösung. Sogar die bessere als Chris McSorley. Letzte Woche hatte der Kanadier einen grossen Auftritt. Per Videokonferenz war er aus Genf zugeschaltet und wurde von den SCB-Verwaltungsräten befragt. «Job-Interview» heisst dieses Prozedere in der Fachsprache.
«Jesus Chris» war brillant. Auf jede Frage hatte er die perfekte Antwort. Am Schluss waren sich die SCB-Generäle im Urteil einig: Der Mann aus Genf weiss ja über unsere Organisation mehr als wir. Den verpflichten wir.
Aber der charismatische Chris war zu brillant. Als sich nach der aufregenden Videokonferenz alle wieder beruhigt hatten, der Raum gelüftet und der Pulverdampf entschwunden war, kehrte der gutbernische Pragmatismus ein. Die Einsicht: Dieser Mann hat zu viel Wasserverdrängung. Chris McSorley und Marc Lüthi: Das geht nicht. Vor allem: McSorley ist wahrscheinlich nicht kontrollierbar. Er könnte zur «unguided missile» werden.
Diese Gefahr besteht bei Raëto Raffainer nicht. In seinen bisherigen Jobs als Sportdirektor beim Verband und beim HC Davos hat er eine Gottesgabe offenbart, die bei Sportgenerälen sehr selten ist. Er versteht es, Ehrgeiz und Ego in die Watte der Diplomatie zu verpacken, sich mit allen zu arrangieren und doch seine Ziele durchzusetzen. Er ist beides: Zielstrebiger Macher und wendiger Diplomat. Und einer, der rund um die Uhr seinem Job nachgeht. Sozusagen Machiavellist und Stachanow. Und es ist kein Nachteil, dass er ein bisschen «SCB-Stallgeruch» hat: Er stürmte von 2005 bis 2008 für den SCB und seine Frau arbeitete erfolgreich in einer Kaderposition der SCB-Administration.
Raëto Raffainers sportliche Kompetenz steht – anders als die seiner Vorgängerin und seines Vorgängers – nicht zur Debatte. Er hat die internationalen Kontakte. Er ist kommunikativ, schlau und diplomatisch. Er kann verhandeln und ist dazu in der Lage, strategisch zu denken. Auch das ist eine Eigenschaft, die in dieser Branche selten ist. Er versteht es, eine Strategie, eine sportliche Philosophie, zu entwickeln und die dazu passenden Trainer und Spieler zu verpflichten.
Sein Meisterstück ist die sportliche HCD-Erneuerung nach der Ära Arno Del Curto. Und nun wird von ihm das gleiche Kunststück in Bern erwartet. Er braucht drei Jahre Zeit, um den SCB aus der sportlich «verfuhrwerkten» Lage wieder in die Spitzengruppe zu führen.
Der Einfachheit halber kann er aus Davos für nächste Saison gleich den bisherigen Assistenten Johan Lundskog (36) mitbringen. Kürzlich hat er über den Schweden gesagt: «Er ist dazu in der Lage, als Cheftrainer eine Mannschaft zu führen.» Und bestätigt: «Der SCB hat uns vor zwei Wochen angefragt, ob wir Verhandlungen mit unserem Assistenten erlauben. Wir waren einverstanden.» Na also, nun wissen wir schon, wer SCB-Trainer wird.
Die Anstellung von Florence Schelling als Sportchefin hat sich als grösster Irrtum in der Karriere von Marc Lüthi erwiesen. Nicht nur er hatte die fachliche Kompetenz der ersten Sportchefin unserer Geschichte überschätzt – und sie die Herausforderung in Bern unterschätzt. Ihre Anstellung war das Risiko wert. Es wird wohl für alle Zeiten der beste PR-Coup in der SCB-Geschichte bleiben.
Aber entscheidend ist nicht ein Scheitern, das nun mal zum Sport gehört und jeden und jede ehrt, die den Mut zu einem Wagnis haben. Entscheidend ist die Korrektur eines Irrtums. Und die ist Marc Lüthi nun gelungen. Und alle können ihr Gesicht wahren. Offiziell behält Florence Schelling ihre Position – im Einverständnis mit dem neuen «Über-Sportchef.» Ein diplomatisches Meisterstück. Und Schelling kann nun sich nun unter kundiger Leitung die Kompetenz für eine Führungsposition in einer Hockeyfirma aneignen.
Um es etwas salopp zu sagen, wofür ich mich gleich entschuldige: Schellings neue Rolle dürfen wir ein wenig mit jener der Queen von England vergleichen. Nicht mehr mit der Verantwortung für die Entscheidungen im politischen Alltag belastet, aber hoch in Ehren. Und Raffainer wird sicherlich diplomatischer sein als der britische Regierungschef Boris Johnson. Im Umgang mit allen beim SCB. Und er hat nicht nur die hierarchische Position, um Lüthi in sportlichen Angelegenheiten auf Augenhöhe zu begegnen und zu widersprechen. Er hat auch die Klugheit, die Persönlichkeit, den Mut und die Kompetenz.
Beruhigend ist noch etwas: Der SCB gehört nach wie vor zu den reichsten Klubs der Liga. Ja, der SCB schwimmt im Geld. Die monetären Klagelieder, die Marc Lüthi vorträgt wie buddhistische Mönchsgesänge, dürfen wir getrost ignorieren. Kein anderes Hockeyunternehmen kann es sich leisten, so sozial und fürsorglich zu sein. Der SCB hat nun einen neuen Sportdirektor, löhnt aber weiterhin die gescheiterte Amtsvorgängerin und den gescheiterten Amtsvorgänger plus drei Trainer.
Kari Jalonen hatte ja noch einen Vertrag für diese Saison, Don Nachbaur einen für diese und nächste Saison und auf der Lohnliste steht auch der aktuelle Trainer Mario Kogler. Der SCB als Bundesamt für Eishockey. Schön, dass diese fürsorgliche Personalpolitik in der kapitalistischen Sportwelt noch möglich ist. Auch dafür gebührt Marc Lüthi ein Lob.
Bei der Nachfolgeregelung in Davos hat der kluge Präsident Gaudenz Domenig nun die Qual der Wahl und die Chance auf eine historische Versöhnung.
An Kandidaten, die den HCD und unser Hockey bestens kennen, fehlt es nämlich nicht. Manager Marc Gianola kann nicht auch noch die Sportabteilung führen. Die mutigste und spektakulärste Lösung wäre ein Duo Pascal Müller/Reto von Arx. So könnte sich Domenig mit der HCD-Kultfigur von Arx versöhnen.