Was wird bloss aus uns, wenn wir keinen Leonardo Genoni mehr haben? Eine Frage, die ohne jede Polemik im Zusammenhang mit dem SC Bern und der Nationalmannschaft gestellt werden kann.
Im Herbst 2018 ist immer wieder die Rede davon, die Schweiz habe ein Torhüterproblem. Es gebe keine neue Generation, um die letzten Titanen Leonardo Genoni und Reto Berra (beide 31) abzulösen.
Woher dieses Aufseufzen? Nun, der SC Bern verliert nach dieser Saison Leonardo Genoni (wechselt nach Zug) und allenthalben heisst es, nur ein Ausländer könne den WM-Silberhelden ersetzen. In Davos oben hat Arno Del Curto die Nerven verloren und Joren van Pottelberghe und Gilles Senn durch den Schweden Anders Lindbäck ersetzt. In Kloten holte Felix Hollenstein lieber einen österreichischen Nationalgoalie (Bernhard Starkbaum), als einem eigenen Nachwuchstalent zu vertrauen. Und wo findet Lugano einen helvetischen Ersatz, wenn Elvis Merzlikins nach Nordamerika wechseln sollte?
Dämmert für die Schweiz eine Goalie-Götterdämmerung herauf? Werden wir zum ersten Mal in der Neuzeit keine international konkurrenzfähigen Torhüter haben?
Nein, so ist es nicht. Noch bevor die Blätter von den Bäumen gefallen sind, zeigt sich bereits: Es nicht alles gut ist, was aus dem Ausland kommt. Davos ist mit Anders Lindbäck in die grösste Krise seit dem Wiederaufstieg von 1993 gerutscht. In Kloten steht inzwischen doch Andrin Seiffert (20) im Tor.
Die Goalie-Panik in Davos und Kloten, die Torhüter Sorgen in Lugano und Bern sind bei Lichte gesehen bloss künstliche Aufregungen. Wir haben durchaus gute eidgenössische Goalies. Das Problem ist nur: Man muss sie kennen und ihnen eine Chance geben. Und ein bisschen langfristig denken.
Ein Blick zurück ist hilfreich. Heute scheint vergessen, wie grosse Torhüter-Karrieren begonnen haben. Der grosse SCB hatte einst den Mut, jungen Goalies eine Chance zu geben. Renato Tosio kam 1987 vom Absteiger Chur zum SCB. Und 2001 holte der damalige Sportchef Rolf Bachmann mit Marco Bührer ebenfalls einen Torhüter aus Chur. Beide waren talentiert, aber noch lange keine Titanen.
Auch Leonardo Genoni und Reto Berra sind nur WM-Silberhelden geworden, weil sie im Alter von 20 Jahren in Davos von Arno Del Curto eine Chance bekommen haben. Zuvor hatte der HCD-Trainer auf Jonas Hiller gesetzt, der in Lausanne nur die Nummer zwei war.
Wenn wir diese Beispiele auf die Gegenwart übertragen, dann müsste der SCB mit der Verpflichtung eines Genoni-Nachfolgers bis Saisonende warten: Steigen die Lakers ab, wäre Melvin Nyffeler der neue Renato Tosio oder Marco Bührer. Und eigentlich müsste Niklas Schlegel (24), die Nummer 2 bei den ZSC Lions mit auslaufendem Vertrag, in Bern, Lugano und Davos ein Thema sein. «Wir sind am Markt» sagt sein Agent André Rufener. Er sei bereits von zwei der drei vorgenannten Klubs kontaktiert worden. «Welche es sind, lassen wir offen …»
Der SCB ist einer dieser drei Klubs. Und es gibt keinen Grund, warum Niklas Schlegel in Bern nicht der nächste Marco Bührer werden könnte. Aber in Bern sind die Ansprüche himmelhoch.
Eigentlich erstaunlich, dass Bern nie einen Torhüter langfristig aufgebaut hat. Ein gutes Beispiel, wie ein Torhüter «gemacht» werden kann, ist Lukas Flüeler, der hier in Krefeld gegen Deutschland das Tor hüten soll.
ZSC-Sportchef Simon Schenk holte den Klotener nach einem Lehrjahr in Nordamerika 2007 nach Zürich, um ihn zum Nachfolger von Ari Sulander aufzubauen. «Er hat mir bei der Vertragsunterzeichnung zugesichert, dass ich drei Jahre Zeit habe. Es war für mich nicht schwierig, mich nach und nach an die NLA zu gewöhnen. Ich wusste ja, dass Ari Sulander immer noch da war.» Inzwischen haben die Zürcher mit Lukas Flüeler bereits drei Titel geholt.
Der Deutschland Cup liefert noch ein Beispiel, dass unsere Torhüter besser sind als ihr Ruf. Servettes Gauthier Descloux (22) hat in seinem ersten Länderspiel am Donnerstag beim Deutschland Cup gegen die Slowakei den Sieg (3:2) mit einer famosen Fangquote (92,00 Prozent) festgehalten. Obwohl er praktisch mit dem ersten Schuss (unhaltbar abgelenkt) das 0:1 kassiert hatte. Nationaltrainer Patrick Fischer erwähnt explizit die «Big Saves» seines Torhüters.
Gauthier Descloux ist wahrscheinlich der beweglichste und reflexschnellste Torhüter der Liga. Mit den Schonern ist er flinker als die Beine eines Rock’n’Roll-Tänzers und er ist einer der raren «Krieger» in Torhütermontur: Er gibt sich auch in hoffnungslosen Situationen nie geschlagen und versucht, irgendwie den Puck zu stoppen. Er könnte den SCB, Lugano oder Davos von den Goaliesorgen befreien. Aber Chris McSorley hat ihn bis 2022 unter Vertrag.
Der Deutschland Cup zeigt: Es ist nicht einmal sicher, dass WM-Silberheld Leonardo Genoni bei der nächsten WM die Nummer 1 sein wird. Gauthier Descloux kann ihn herausfordern. Lukas Flüeler in Bestform ist so gut wie Leonardo Genoni. Und was, wenn Reto Berra seine Bestform erreicht (was bisher noch nicht der Fall ist)?
Der Kampf um die Nummer 1 bei der WM ist offen wie seit Jahren nicht mehr. Und warum nicht in einem der «Operetten-Länderspiele» im Dezember oder Februar Melvin Nyffeler probieren?