Es geht nicht um Straftaten wie bei «MeToo». Daher ist der Vergleich gewagt. Aber die Systematik bei den Enthüllungen mahnt tatsächlich an «Me too». So titelte das angesehene Hockey-Portal «Hockeyfans.ch»: «MeToo erreicht die NHL mit voller Wucht.»
Wer Jungmillionäre dazu bringen will, an ihre Limiten zu gehen, Schmerzen zu vergessen und notfalls auch mit gebrochenen Knochen weiterzukämpfen, kann bei seinen Führungs- und Motivationsmethoden offenbar nicht zimperlich sein. Oder meint es wenigstens.
Die Kultur der «harten Hunde» ist nirgendwo im Westen so ausgeprägt wie in Nordamerika. Dagegen aufmucken? Sich über die Methoden des Chefs in dieser Macho-Welt beklagen? Undenkbar. Der Ruf eines Weicheis würde einen Spieler bis ans Ende seiner Tage verfolgen. In die Öffentlichkeit tragen? Wie denn vor dem Zeitalter der Sozialen Medien? Ein Chronist, der sich mit so einer Story hätte profilieren wollen, dem hätte das gleiche geblüht wie einem klagenden Spieler: Ausgrenzung oder gar das Ende der Karriere.
Durch die Sozialen Medien ist vieles anders geworden. Jetzt braucht es nur noch jemanden, der den Mut hat, den ersten Schritt zu tun. Twitter wirkt dann wie ein Brandbeschleuniger. Episoden, die bisher nur an der Hotelbar erzählt wurden (kein anderer Sport hat eine so hoch entwickelte Kultur des Geschichtenerzählens), geraten plötzlich in die Öffentlichkeit. Was dem Präsidenten des mächtigsten Landes der Erde recht, das ist jenen billig, die eine Botschaft in die Öffentlichkeit tragen wollen. Twitter ist die Wunderwaffe.
Die nun entbrannte Debatte über das Verhalten von Coaches zeigt auch einen fundamentalen Unterschied zwischen den Hockeykulturen. Die Autorität des Cheftrainers ist in der nordamerikanischen Sportkultur traditionell viel grösser als bei uns. Eingebettet in einer Gesellschaft, die mehr von der Allmacht der Autoritäten durchdrungen ist als in Westeuropa (und der Schweiz). Sozialkompetenz war bis vor kurzem bei den Cheftrainern in der NHL viel weniger gefragt als bei uns.
Befehle empfangen und gehorchen gehörte noch bis weit in die 1990er Jahre hinein zum Reflex eines guten NHL-Profis. Die gebildeteren Schweizer Spieler liessen sich schon im letzten Jahrhundert nicht so herumkommandieren wie Nordamerikaner und wagten es, Fragen zu stellen.
Die ganze Welle hat ausgerechnet Don Cherry losgetreten. Wer mag, kann ihn als Karikatur eines alten zornigen weissen Mannes bezeichnen. So lange er in bunten Anzügen wie ein böser Clown im kanadischen Fernsehen die Macho-Kultur hochleben liess, die Europäer und Frankokanadier als Weicheier schmähte und sich seine Tiraden und kruden Analysen aufs Hockey beschränkte, blieb er unbehelligt und gehörte zur Unterhaltungskultur.
Aber nun machte der ehemalige NHL-Coach (in den 1970er Jahren bei Boston und Colorado) mit der Weisheit seiner 85 Jahre einen entscheidenden Fehler: Er wetterte gegen Immigranten ausserhalb des Hockeys. So ist er ins Minenfeld der politischen Korrektheit geraten und eine Welle der Empörung hat ihn aus dem Job und von den TV-Schirmen gefegt.
Die Ikone Don Cherry ist gestürzt worden. Nun wagen sich die Spieler an die Öffentlichkeit. Mit Fällen, die meist Jahre zurückliegen.
Der erste ist Akim Aliu (30), ein in Nigeria geborener Kanadier ohne grosse NHL-Karriere (7 Spiele). Ihm machen rassistische Vorfälle aus NHL-Trainingscamps noch heute zu schaffen. Sein Trainer Bill Peters haben ihn wegen seiner Musik-Vorlieben als «N....» beschimpft.
Was damals nach dem Grundsatz «Was in der Kabine passiert, bleibt in der Kabine» ohne Folgen blieb, sorgt nun in den Sozialen Medien für einen Shitstorm. Nun wagt auch der ehemalige Spieler Michal Jordan zu erzählen, wie er von Bill Peters hinter der Bande getreten und wie ein Teamkollege von ihm geschlagen worden sei. Der Trainer der Calgary Flames hat inzwischen seinen Job verloren.
Als nächster ist mit Mike Babcock ein Titan in die Bredouille geraten. Er ist ein kanadischer Nationalheld. Zweimal hat er die Kanadier zu Olympia-Gold geführt, mit Detroit gewann er den Stanley Cup und in Toronto war er zuletzt mit 50 Millionen Dollar für acht Jahre der bestbezahlte Hockeytrainer aller Zeiten geworden.
Bei ihm geht es um die Machtspielchen, die eigentlich zum Repertoire aller grossen Bandengeneräle gehören. Er soll Mitch Marner (22) – der am Anfang einer vielversprechenden NHL-Karriere steht – angewiesen haben, die am härtesten und am wenigsten hart arbeitenden Spieler aufzulisten.
Mike Babcock habe die Liste in der Kabine präsentiert um Stimmung gegen die angeblich «faulen» Spieler zu machen. Torhüter Martin Gerber war in Anaheim einst Torhüter im Team von Mike Babcock. Er hat zu dessen Führungsmethoden einmal lakonisch gesagt: «Wenn man es mit ihm gut hatte, war es gut. Wenn nicht, war es weniger gut. Ich hatte es gut ...» Mike Babcock ist kürzlich in Toronto gefeuert worden. Wegen Erfolglosigkeit.
Bill Peters ist in der NHL der erste, aber nicht der letzte Trainer, der seinen Job im Zuge der Enthüllungswelle verloren hat. Inzwischen ist Ex-ZSC-Trainer Marc Crawford als Assistent bei Chicago suspendiert worden. Weil Sean Avery (39) – nach über 500 NHL-Spielen im Ruhestand – enthüllte, er sei im Dezember 2006 bei den Kings in Los Angeles von Marc Crawford wegen zu vieler Strafen so stark körperlich gezüchtigt worden sei, dass er blaue Flecken davongetragen habe.
Inzwischen hat die ganze Bewegung auch unser Hockey erreicht. Wenigstens ein bisschen. Die Neue Zürcher Zeitung hat eine uralte Geschichte aufgewärmt. Bob Hartley – der ehemalige NHL-General steht jetzt in Russland an der Bande – habe in den Playoffs 2012 Sven Ryser vor einem Spiel gegen Davos angewiesen, Reto von Arx an der blessierten Hand zu verletzen. Er habe den Auftrag abgelehnt und fortan nicht mehr gespielt.
Steht der NHL ein Erdbeben bevor wie der Showbranche durch «MeToo»? Wohl kaum. Es handelt sich bei den ganzen Vorfällen soweit das jetzt ersichtlich ist, ja nicht um Straftaten wie bei «MeToo», die zwingend staatliche Strafverfolgungsbehörden mobilisieren. Es ist eher ein reinigendes Gewitter, das ein etwas milderes Klima für die Spieler ankündigt: Coaches werden sich künftig zurückhalten.
Ohnehin wächst eine Spielergeneration heran, die nur noch mit hoher Sozialkompetenz erfolgreich geführt und motiviert werden kann. Das Zeitalter der «harten Hunde» neigt sich dem Ende zu wie einst jenes der Dinosaurier.