Wie viel Einfluss hat ein einziger Mann in einem Geschäft, das sich gerne als letzter wahrer Mannschaftssport zelebriert?
Wenn wir an all die Erläuterungen zum Thema denken («Wir siegen und verlieren als Team») müssten wir eigentlich sagen: keinen. Die Praxis unterscheidet sich erheblich von der Theorie.
Im Januar verlässt Raeto Raffainer (39) den HC Davos, um Obersportchef beim SC Bern zu werden. Natürlich nicht wegen des Geldes. Sondern wegen der neuen Herausforderung. In Davos war er nur Sportchef. In Bern wird er Obersportchef. Es ist ein Wechsel, der, wie wir inzwischen wissen, die Eishockey-Landkarte verändert hat.
Am Tag, an dem Raffainer sein SCB-Büro bezieht, hat der Meister von 2019 exakt 1,0 Punkte pro Spiel geholt. Am Ende werden es 1,167 sein. Genug für Platz 9 und die Pre-Playoffs gegen den HCD (8.). Mit 1,0 Punkten hätte es nicht gereicht.
Was hat sich durch Raeto Raffainers Ankunft in Bern verändert? Hüten wir uns vor Polemik und «Heldenverehrung» und begnügen wir uns mit Fakten.
Gut drei Wochen nach seiner Ankunft erwacht der SCB aus einer Art Agonie und transferiert. Aus Lausanne kommt Cory Conacher. Der Kanadier wird zur zentralen Figur der «Auferstehung» und ist mit 1,19 Punkten pro Spiel mit Abstand der produktivste SCB-Spieler der Saison.
Natürlich betont der Obersportchef, er habe nichts mit dem Transfer zu tun. Das habe alles Untersportchefin Florence Schelling eingefädelt. Ganz so wie es ihm SCB-Manager und Mitbesitzer Marc Lüthi sicherlich eingeschärft und aufgetragen hat. Wer's glaubt, zahlt einen Taler.
Der SCB-Obersportchef ist ein grosser Kommunikator und könnte auch als Politiker eine formidable Karriere machen. Fast (aber nur fast) wie Ralph Krueger. Auch er hat verstanden, dass Kommunikation Sauerstoff und Energiespender in diesem Geschäft sein kann.
Seine offene, unkomplizierte Art hat im erstarrten SCB-Innenleben Tauwetter ausgelöst. Perestroika. Raffainer ist es gelungen, die Schockstarre aufzulösen, die den SCB nach der Entlassung von Kari Jalonen, dem Verpassen der Playoffs im Frühjahr 2020 und der unglücklichen Trainerwahl (Don Nachbaur) erfasst hatte. Mit ihm ist das Vertrauen in die sportliche Führung zurück. Der SCB ist auf bescheidenem Niveau wieder konkurrenzfähig.
Raeto Raffainer und seine Art tun dem SCB also gut. Er könnte entspannt den Pre-Playoffs entgegensehen. Aber der Gegner ist der HC Davos. Der Klub, der ihm eigentlich am Herzen liegt. So hat er es jedenfalls immer und immer wieder erklärt, als er im Frühjahr 2019 die Beamtenstelle als Verbands-Sportdirektor aufgegeben hatte, um den HCD-Neuaufbau nach der Ära Del Curto zu orchestrieren.
Was ihn in die Bredouille bringt: Er hat in Davos seinen Freund Christian Wohlwend (44) installiert. Der HCD-Trainer ist mehr als sein Hockey-Kumpel. Die beiden Engadiner sind seit Jahren weit übers Hockey hinaus befreundet. Raffainer war Trauzeuge bei Wohlwends Hochzeit und ist der Götti des neunjährigen Tim Wohlwend. Kippt der SCB nun in den Pre-Playoffs den HCD aus dem Wettbewerb, dann wird die Autorität des HCD-Trainers die ersten Risse bekommen und seine dritte Saison in Davos könnte eine ganz, ganz schwierige werden. Und der «Verrat» seines Freundes und Trauzeugen wäre daran mitschuldig.
Auch der Hinweis, der HCD habe doch nach seinem Abgang den Punkteschnitt noch verbessert, würde Raeto Raffainer nicht helfen. Es wäre wohl nicht zu verhindern, dass das böse Wort «Verrat» ausgesprochen wird. Nicht im direkten Gespräch. Aber im Fuchsbau des renovierten HCD-Stadions.
Diese Pre-Playoffs machen Raffainer zum Medienthema. Die Absicht, für ein paar Tage von der Bühne zu verschwinden und das Hosentelefon abzuschalten, hat er nicht in die Tat umgesetzt. «Ich werde bei den Spielen im Stadion präsent sein.» Er ist rhetorisch so begabt, dass er nicht durch unbedachte verbale Ausrutscher die Davoser oder – noch schlimmer – die Berner gegen sich aufbringt.
Vor irgendwelchen sportlichen Einschätzungen hütet er sich wohlweislich. Und nun hilft ihm die Freundschaft mit dem HCD-Trainer. Auf die Frage, wann er mit Christian Wohlwend zuletzt gesprochen habe, sagt er: «Letzte Woche». Und worüber haben Sie sich mit ihm unterhalten? «Über seinen Sohn Tim.» So ist er fein raus.
Bleibt noch die sportliche Einschätzung, vor der sich der SCB-Obersportchef hütet. Nun, die Berner sind zwar langsamer als die Bündner. Logisch. Aber sie sind defensiv solider, rauer und haben die besseren Torhüter. Das bedeutet eigentlich hockeytechnisch auch in Pre-Playoffs das Weiterkommen. Der SCB ist 80:20 Favorit.
«Wir werden sehen», sagt Raffainer, ganz Diplomat, zu dieser Prognose. Wer weiss, vielleicht kommt ja alles anders, und die Davoser laufen den Bernern doch davon. Raeto Raffainer würde es mit ziemlicher Sicherheit ganz, ganz tief im Herzen, dort, wo auch Marc Lüthi nicht hineinsehen kann, ein wenig freuen.
Und dass sein Transfer erst durch den Abgang von Brithen möglich wurde und weniger durch Raffainer, wird hier auch grosszügig weg gelassen...
Viele Spieler sind untereinander befreundet oder sogar in irgendeiner Form verwandt, spielen nächstes Jahr eventuell beim Gegner. Alles kein Problem.
Vor und nach dem Match ist man Freunde. Aber auf dem Eis, während dem Spiel oder der Serie Gegner, danach wieder Freunde.
Völlig normal und kein Problem.
Hopp HCD