René Fasel ist ein Romantiker. Anders als so viele Sportfunktionäre mit seiner Machtfülle ist er nie materiellen Versuchungen erlegen. Er weigert sich beispielsweise, mit Privatjets zu reisen, und fliegt Linie.
So fehlt ihm der Schwefelgeruch der Korruption und Raffgier. Zu Recht gilt er als einer der letzten Aufrechten und Ehrlichen im internationalen Sport-Business. Ein Romantiker eben.
Sein Charme und seine Schlauheit, oft getarnt hinter einer entwaffnenden Naivität, haben es ihm ermöglicht, Hockey-Weltgeschichte zu schreiben. Er holt 1998 die NHL-Profis ins Olympische Turnier und 2018 treten Nord- und Südkorea mit einer gemeinsamen Frauen-Mannschaft beim Olympischen Hockey-Turnier in Südkorea an. Beides konnte nur einem Romantiker gelingen, der an die Kraft des Sportes glaubt und so beides überwindet: den puren Kapitalismus und Egoismus der NHL-Generäle und die eigentlich unüberwindlichen politischen Differenzen zwischen Nord- und Südkorea.
Terrible optics as International Ice Hockey Federation president Rene Fasel embraces Aleksandr Lukashenko at a meeting in Minsk to discuss hosting the world championship in Belarus. That’s after months of brutal tactics against protesters & tens of thousands arrested & tortured pic.twitter.com/Gx3xe2b9aF
— Matthew Luxmoore (@mjluxmoore) January 11, 2021
Weil Russland eine sportliche und politische Eishockey-Weltmacht ist, hat René Fasel eine hohe Affinität für die russische Kultur, Literatur und Geschichte. Und weil er ein Romantiker ist, sieht er in Russlands Machthabern und ihren Amigos arglos nichts anderes als Hockey-Freunde. Und wiederum typisch für diesen Romantiker: Er glaubt, Sport und Politik auseinanderhalten zu können. Obwohl er doch gerade mit dem gemeinsamen Frauenteam von Nord- und Südkorea die Politik für den Sport virtuos instrumentalisiert hat.
Nun haben die Hockey-Götter alles für eine hollywoodreife Episode zusammengefügt. Als ob sie ihren Günstling bestrafen wollten. Die WM von 2014 in Minsk ist ein grandioser Erfolg mit den zweithöchsten Zuschauerzahlen in der Geschichte. Der Romantiker René Fasel ist tief beeindruckt von der Gastfreundschaft, der Perfektion der Organisation und der echten Hockey-Leidenschaft im Land. So ist es nur logisch, dass das hockeybegeisterte Staatsoberhaupt Alexander Lukaschenko seither zu René Fasels Freundeskreis zählt.
Inzwischen sind die politischen Verhältnisse ausgerechnet in Weissrussland aus den Fugen geraten. Alexander Lukaschenko ist zum weltweit geächteten Bösewicht geworden. Er ist nicht der einzige politische Bösewicht auf diesem Planeten. Wahrscheinlich wird er einmal vor dem jüngsten Gericht nicht viel ungnädiger beurteilt als Donald Trump oder das chinesische Staatsoberhaupt.
Aber der abgewählte US-Präsident und der chinesische Staatschef auf Lebenszeit sind zu mächtig. China und die USA sind die zwei grössten Volkswirtschaften der Erde. Niemand ruft ernsthaft zu einem Boykott der Olympischen Spiele von 2022 in Peking oder der NHL auf. Zu wichtig ist das Business. Alexander Lukaschenko ist hingegen ein «Operetten-Diktator»: das böse Staatsoberhaupt eines wirtschaftlich und militärisch völlig unbedeutenden Landes. Da darf nach Lust und Laune Bann und Boykott gefordert werden.
Wäre René Fasel ein Real- und Machtpolitiker und kein Romantiker, dann würde er sich inzwischen von Alexander Lukaschenko fernhalten wie der Teufel vom Weihwasserbecken. Wunderbare Hockey-WM 2014 hin oder her.
Aber der Romantiker in ihm ist stärker. Er will persönlich mit Alexander Lukaschenko über die Absage der WM 2021 reden. Die vielen Helferinnen und Helfer, die mit Leidenschaft auf diese WM hingearbeitet haben, tun ihm, dem Romantiker, leid und er weigert sich, es doch mit einem Schreiben oder fernmündlicher Kommunikation bewenden zu lassen. Er fliegt via München nach Minsk. Zum Gespräch von Mann zu Mann.
Was tut ein weltweit isolierter Diktator, wenn der Besuch eines hohen Sportdiplomaten aus der ältesten Demokratie der Welt ansteht? Richtig: Er tut alles, um diese Visite nach allen Regeln der Propaganda auszunützen. Der eiskalte Machtpolitiker stellt die «Propaganda-Falle» und der Romantiker René Fasel ist mit einer schier unfassbaren Naivität hineingetappt. Die TV-Kameras und sonstigen Bildermaschinen haben die herzliche Begrüssung samt Umarmung festgehalten und sofort weltweit verbreitet.
Und wie es zu einer dieser beschämenden sportpolitischen Seifenopern gehört, fällt unserem Verbandspräsidenten Michael Rindlisbacher nichts anderes ein, als mit einer billigen Verurteilung gegen seinen Landsmann nachzutreten. Aber natürlich hat er nicht den Mut, als Konsequenz den Boykott einer WM 2021 in Minsk anzukündigen. Er hätte besser geschwiegen.
Nun stellt sich die Frage: Hat denn René Fasel keine Beraterinnen oder Berater, die ihn vor dieser Peinlichkeit gewarnt haben? Nein, hat er nicht. Weil er unter dem «Marc-Lüthi-Syndrom» leidet. So wie beim SC Bern niemand mehr da ist, der dem seit 1998 «regierenden» Marc Lüthi auf Augenhöhe entgegenzutreten wagt, weil alle ihre Jobs der uneingeschränkten Loyalität zum Chef verdanken, so ist auch René Fasel, seit 1994 höchster Hockey-Funktionär der Welt, umgeben von tüchtigen Leuten, die ihre Jobs der Loyalität zum Chef verdanken. Niemand hat es gewagt, René Fasel von dieser Reise nach Minsk abzuraten.
Kein Vorsitzender hat den internationalen Eishockey-Verband so lange geführt wie René Fasel. Kein Präsident hat für den internationalen Eishockey-Verband mehr geleistet und erreicht als René Fasel. Er ist einer der grössten und integersten Diplomaten, die unser Sport je hervorgebracht hat. Auf Augenhöhe mit Ernst B. Thommen, Marc Hodler oder Dr. Helmut Käser.
Aber es ist nicht sicher, dass er nach dem Ablauf seiner letzten Amtsperiode im nächsten Herbst als einer unserer grössten Sportfunktionäre der Geschichte in Erinnerung bleiben wird. Sondern als der Romantiker, der in schier unfassbarer Naivität einen Operetten-Diktator vor den Augen der Welt umarmt hat.
Was mich aber noch mehr verärgert hat, ist sein Busenfreund Mario Rottaris, der gestern im TV ihn in Schutz genommen hat und alles noch schönreden wollte!