Unter all den Lebewesen, die den Planeten Hockey bevölkern, ist es das seltsamste. Ajoies Dress zieren weder Bär noch Löwe, Steinbock, Drache oder Tiger. Sondern die «Vouivre».
Der Kopf des Fabeltiers auf dem Ajoie-Dress sieht aus wie ein im Föhnsturm zerzauster Adler. Doch es handelt sich nicht um einen Vogel. Sondern um ein Wesen aus der Sagenwelt. Halb Drache, halb Schlange, mit Flügeln und nur zwei Beinen.
In vielen Gegenden Europas gibt es Erzählungen über dieses Wesen. Meistens sind es Berichte über ein schreckliches Untier. In der Ajoie gilt es als friedlich. Es lebe im Wasser, tauche nur in der Nacht auf, trage auf dem Kopf statt eines Auges einen Diamanten. Doch jeder Versuch der Nachtbuben, dieses Schmuckstück zu stehlen, sei bis heute gescheitert.
Eine wunderliche Geschichte aus dem Land der letzten helvetischen Freiheitskämpfer. Die Viruskrise macht Reisen fast unmöglich. Und so lernt gerade ein Berner eine Fahrt ins Elsgau (deutsche Bezeichnung der Ajoie) wieder schätzen. Erst recht, wenn der Himmel klar ist und die Sicht weit über das hügelige, waldreiche Land geht, das uns einst gehört hat.
Der schönste Weg aus der Ebene des dichtbesiedelten Mittellandes hinüber in eine melancholische Landschaft, die ein wenig an Mittelerde aus Tolkiens «Herr der Ringe» mahnt, erklimmt den Scheltenpass nach Delémont. Von dort geht es über die langgezogenen Kurven des Col des Rangiers. Eine wunderbare Fahrt, die Herz, Sinne und Seele öffnet für eine andere Welt.
Nach einer solchen Reise ahnt der Fremde, warum die Jurassier seit Jahren die besten kanadischen Spieler der Liga beschäftigen. Über Jahre Stéphane Roy und James Desmarais und inzwischen Philip-Michaël Devos und Jonathan Hazen. Männer aus Orten wie Ste-Martine, Sorel-Tracy, Val-Belair oder Montréal. Aus Quebec.
Nehmen wir nur diese vier Namen: durchwegs Center und Flügel mit genügend Talent für unsere höchste Liga. Und doch blieben und bleiben sie beim HC Ajoie.
Dass es so ist und nicht anders, mag viele Gründe haben. Aber womöglich haben wir an den wichtigsten noch gar nie gedacht: das Städtchen Porrentruy (Pruntrut) mit nicht einmal 7000 Seelen, die Dörfer im Umland mit den grossen Kirchen, die Eishockey-Leidenschaft, die unbeugsame Mentalität der Menschen – der Kanton Jura hat die Unabhängigkeit von Bern bereits erkämpft, Quebec jene von Kanada noch nicht – machen die Ajoie zum Quebec Europas.
Ein Frankokanadier mit Sinn für Hockey-Romantik dürfte sich fern seiner Heimat nirgendwo so wohl fühlen wie beim HC Ajoie. Kürzlich erzählte ein Spieleragent, der Klub brauche frankokanadische Spieler nicht mehr zu suchen. Es sei inzwischen vielmehr so, dass aus Quebec Anfragen kommen, ob es eine Möglichkeit gebe, beim HC Ajoie unterzukommen. Vieles spricht dafür, dass er nicht einfach eine passende Anekdote erzählt hat, sondern dass es wahr ist.
Der Klub mit dem seltsamsten Tier und den besten Frankokanadiern ist gerade drauf und dran, in den Final vorzurücken. Die Mannschaft von Gary Sheehan – auch er stammt aus der Provinz Quebec – hat den Halbfinal gegen Langenthal gedreht. Nach dem 4:0 im dritten Spiel führt Ajoie nun in der Serie 2:1.
Dieses 4:0 hat zwar auch taktische Gründe: Gary Sheehan hat die Defensive geordnet und die Anzahl Fehler geradezu drastisch reduziert. Und so ist die Anzahl der Gegentore zurückgegangen: Auf die Startniederlage (4:5) folgt ein 5:3 in Langenthal und nun gestern ein 4:0.
Bei diesem 4:0 dreht sich wieder einmal fast alles um Philip-Michaël Devos und Jonathan Hazen. Erstens haben die beiden Frankokanadier bei allen vier Treffern den Stock im Spiel. Noch wichtiger: Keinem anderen Team ist es im Laufe der Qualifikation so gut gelungen, die beiden zu neutralisieren, wie Langenthal. Aber nun funktioniert es nicht mehr.
Nach knapp neun Minuten führt Ajoie schon 2:0. Kurz darauf kommt es zur Kollision zwischen Marc Kämpf (30), sonst kein Raubein, und Topskorer Philip-Michaël Devos.
Die guten Schiedsrichter schicken Langenthals Vorkämpfer – einst Meister mit dem SCB – in die Kabine: Check gegen den Kopf. Die Berner überstehen den Fünfminuten-Ausschluss ohne Gegentor. Aber eben nicht ungeschoren: mit Marc Kämpf fehlt nun ein wichtiger Spieler und die Linien passen nicht mehr richtig zusammen.
Der Check ist hart, trifft den Kopf des Gegenspielers und die Scheibe war zum Zeitpunkt des Angriffs auch schon weg. Es gibt keinen Grund, mit dem harten Urteil der Unparteiischen zu hadern.
Und doch ist die Unzufriedenheit gross: Philip-Michaël Devos bleibt nämlich auf dem Eis liegen. Pflegepersonal eilt tapsenden Schrittes über die rutschige Unterlage herbei, um dem niedergestreckten Helden aufzuhelfen. Wie schwer ist er verletzt? Kann er überhaupt weitermachen? Muss eine Trage herbeigeschafft werden? Gott sei bei uns! Ganz klar: Marc Kämpf, der Bösewicht muss in die Kabine geschickt werden.
Kaum sind allenthalben die Helme wieder aufgesetzt und festgezurrt, kaum ist das Urteil gesprochen und der Übeltäter der gerechten Bestrafung zugeführt, kaum hat man alles wieder hergerichtet, orchestriert Philip-Michaël Devos das Powerplay. Munter, als wäre nie etwas gewesen. Er wird später das 3:0 erzielen und das 4:0 vorbereiten. Hat er simuliert? Ein bisschen schon.
Ist er deshalb ein Schuft? Natürlich nicht! Es war geradezu seine Pflicht, ein wenig auf dem Eis liegen zu bleiben. Playoff-Time! Wer einen so cleveren Spieler so unbedarft umnietet, lädt ihn geradezu ein, alles zu tun, damit daraus auch tatsächlich ein Restausschluss wird. Philip-Michaël Devos war clever. Marc Kämpf war es ganz und gar nicht.
Das beste Mittel gegen Ajoies Frankokanadier ist ein guter Torhüter. Der Langenthals ist an einem guten Abend einer der Besten der Liga. Aber im Halbfinal ist er es nicht mehr. Konzentrationsschwächen. Charisma verloren. Formkrise? Wahrscheinlich. Eigentlich müsste Trainer Jeff Campbell jetzt U20-Nationalgoalie Andri Henauer eine Chance geben. Wenn er nichts wagt, gewinnt er in dieser Serie nichts mehr.
So ist das halt in den Playoffs. Am Ende geht es doch um die Goalies. Wir unterhalten uns über das seltsame Fabeltier auf dem Dress. Die «Vouivre». Sagt eine junge Frau aus der Runde, der Sprache der ehemaligen bernischen Obrigkeit mächtig: «Eigentlich sollte es ein Werwolf sein.» Werwolf? Warum denn das? Sie buchstabiert präzisierend: «Einen Wehr-Wolf».
Torhüter Tim Wolf, ein Zürcher aus der Organisation der ZSC Lions, spielt gerade das beste Hockey seiner Karriere und ist mit 95,26 Prozent Fangquote statistisch die Nummer 1 der Playoffs. Der Wolf, der die Schüsse abwehrt. Der Wehr-Wolf also.
Willkommen im Land der Fabeltiere, im Quebec des europäischen Eishockeys.
Wenn es einen Aufsteiger gibt, hätte ich schon Freude, wenn es Ajoje ist. Nur schon, damit endlich die Hockey-Schweiz endlich weiss, ob Devos und Hazen auch gut genug für die NL sind.
Danach hätten wohl die 11anderen Sportchefs und Chefinnen Jan Alstons Frisur, da sie sich die Haare ausrissen, weil sie nicht früher selber verpflichtet haben.