Was, nach Ambri? In dieser kalten Winternacht? Das ist die Reaktion auf meine Absicht, noch einmal nach Ambri zu fahren. Noch einmal die wahre, die kalte Valascia zu erleben. Noch einmal Eishockey in seiner ursprünglichen Form zu geniessen. Mit kalten Füssen und heissem Herzen.
Das Risiko ist erheblich. Am Dienstag ist ein saft-, kraft- und energieloses Ambri in Bern 1:3 untergegangen. Torhüter Damiano Ciaccio war kein Held. Aber was sollte er auch ausrichten? Seinen Vordermännern fehlte die Leidenschaft. Der Glaube. Der Mut. Nun könnte es sein, dass Ambri zwei Tage nach der ruhmlosen Niederlage gegen den SC Bern von den mächtigen, grossen ZSC Lions vom Eis gefegt werden wird.
Aber Luca Cereda ist ein grosser Trainer. Das ist meine Hoffnung. Und siehe da: Die Reise hat sich gelohnt.
Es ist kalt in der Leventina. Und es wirkt alles noch viel kälter, weil die Fenster der verriegelten Wirtshäuser alle dunkel sind. Es wäre nicht möglich, eine Herberge zu finden. Im Dorf könnte die Weihnachtsgeschichte als Freilufttheater aufgeführt werden.
Zum Glück ist es kalt. Minus 13 Grad. Ein langjähriger Korrespondent, der schon seit dem letzten Jahrhundert zu den Spielen kommt und im Südtessin einem grossen Bankhaus arbeitet, klärt auf: Heute sei der kälteste Matchtag seit 2013.
In der Kälte der kanadischen Prärie ist Eishockey Ende der 1800er-Jahre erfunden worden. Anfang der 2020er-Jahre wird Eishockey ausserhalb von Russland und unterhalb des Polarkreises nur noch an einem Ort in seiner ursprünglichen Form zelebriert. In der Valascia. Also muss es kalt sein.
Luca Cereda stellt jetzt Viktor Östlund (26) ins Tor. Der Sohn des einstigen Gottéron-Goalie-Titanen Thomas Östlund. Er wird hexen und 97,37 Prozent der Schüsse abwehren. Dieser erstaunlich flinke Riese (193 cm) beeindruckt mit schlauem Winkelspiel, Fangsicherheit, Puckkontrolle, Reflexen und Coolness. Es ist ja nicht so, dass die ZSC Lions Ambri unterschätzen oder nachlässig sind. Nein, sie ziehen phasenweise ein beeindruckendes Lauf- und Kombinationsspiel auf und achten auf gute Organisation der Abwehr. Aber sie scheitern in den entscheidenden Phasen an Ambris Torhüter, der sonst meistens im Farmteam tätig ist. Gäbe es keine Lizenz-Schweizer, dann gäbe es diese Karriere gar nicht.
Wir sehen das wahre Ambri. Leidenschaftlich, aber nie hektisch oder übereifrig. Kompromisslos in den Zweikämpfen, aber nie hitzig oder disziplinlos. Schnell, aber immer organisiert. Sie halten den nominell viel besseren Gegner unter Kontrolle und nützen jede Gelegenheit zum Vorstoss. Am Ende sind es 44 Schüsse. Gegen diese ZSC Lions 44 Pucks aufs Tor zu bringen, zeigt in Zahlen die Kampfkraft. Die Leidenschaft. Den Mut. Die heissen Herzen.
Am Ende zeigt sich, warum Luca Cereda ein ganz grosser Trainer ist. Sein Captain Michael Fora (25) ist auf dem Weg dazu, der tragische Held dieser magischen, kalten Nacht zu werden. Er beschert uns eine der Geschichten, die Ambris Magie erklären.
Erst bringt er in der 41. und in der 47. Minute die Aufholjagd – die ZSC Lions führen seit der 6. Minute 1:0 – mit je einer Zweiminutenstrafe zwischenzeitlich ins Stocken. Dann gelingt Julius Nättinen per Penalty (ZSC-Topskorer Denis Hollenstein war der Sünder) doch noch die Egalisation zum 1:1 (51.). Aber schon 53 Sekunden später muss der Captain erneut auf das Sündenbänklein. Seine dritte (!) Strafe im Schlussabschnitt.
Spätestens jetzt hätte jeder gewöhnliche Coach seinen Captain für den Rest des Spiels unter die Wolldecke gesteckt. Verlängerung. Hat Luca Cereda den Verstand verloren? Er schickt nämlich Michael Fora wieder aufs Eis. Und sein Verteidigungsminister kassiert seine vierte Strafe (61:49). Ein «normaler» Coach einer «normalen» Mannschaft hätte Michael Fora nun nach Ablauf dieses Ausschlusses nicht unter die Wolldecke beordert. Sondern zornig in die Kabine geschickt.
Aber Luca Cereda lässt sich einfach nicht beirren. Die letzte Minute läuft. Er hat Michael Fora erneut aufs Eis geschickt. Ist Ambris Coach verrückt? Unbelehrbar?
Nein, er ist ein grosser Coach. Er ist ein Sohn der Leventina. Er weiss, wie sein Captain tickt. Schliesslich ist auch er ein Sohn der Leventina. In Michael Fora lodert der «heilige Zorn» auf. Er bekommt die Scheibe an der blauen Linie. Der Schwede Marcus Krüger – wahrlich, kein Nasenbohrer – wirft sich ihm entgegen. Vergeblich. Michael Fora hat freie Bahn und legt alles was er hat – Leidenschaft, Kraft, Stolz, Technik, Mut – in einen letzten, allerletzten Abschlussversuch. Der Puck schlägt unhaltbar im Netz des mehrfachen meisterlichen Titanen Lukas Flüeler ein. Auch er wahrlich, wahrlich kein Nasenbohrer. Das ist 43 Sekunden vor Ablauf der Verlängerung der Sieg. Was für eine Story: drei Strafen im letzten Drittel, eine Strafe in der Verlängerung – und dann der Siegestreffer.
Und was sagt Michael Fora dazu? «Viermal haben mich meine Mitspieler gerettet und gutgemacht, was ich verursacht hatte. Ich war der Mannschaft etwas schuldig.» Nicht einen Kasten Bier. Nicht eine Runde Pizza. Sondern den Siegestreffer.
So ist Mannschaftsport. So ist Eishockey. So ist Ambri. So ist Michael Fora.
Erst während der Fahrt nach Hause und auf der anderen Seite der Berge, wo es nur noch drei Grad kalt ist, fällt mir ein: Etwas hat gefehlt. Niemand hat «La Montanara» gesungen. Es war niemand da, der die Siegeshymne hätte intonieren können. Das Spiel war so gut, dass ich glatt vergessen hatte, dass es ja ein Geisterspiel war. Aber die eiskalten Füsse werden erst lange nach Mitternacht im Jacuzzi draussen im Garten endlich wieder warm.