Ein Finanzausgleich zwischen den reichen und armen Klubs analog jenem zwischen den armen und reichen Kantonen gibt es im Eishockey nicht.
Aber wir haben im sportlichen Bereich diesen Ausgleich zwischen den armen und den reichen Klubs. Weil die grossen Hockeyunternehmen in einem zentralen Bereich einfach nicht fähig sind, ihre Hausaufgaben zu machen: im Scouting. Also in der Sichtung und Bewertung eigener und anderer Talente.
Gerade der SC Bern, das im wirtschaftlichen Bereich wohl bestgeführte Hockeyunternehmen Europas, leistet sich eine Scouting-Abteilung, die uns ein wenig an die drei ursprünglich aus Japan stammenden Affen mahnt: «Mi-Zaru», «Kika-Zaru» und «Iwa-Zaru». Was so viel bedeutet wie «nichts sehen», «nichts hören», «nichts sagen.»
Einer der wichtigsten Gründe für die Ausgeglichenheit der Liga ist also das Unvermögen der «Grossen», die Talente, die sie selber in exzellenten Nachwuchsabteilungen ausbilden, zu erkennen, zu fördern und in die eigene Mannschaft einzubauen. Und so wechseln diese Talente eben zu den «Kleinen».
In jüngster Zeit haben wir zwei krasse Beispiele, die ursprünglich den SC Bern betreffen. Es ist eine altbekannte Geschichte, aber man muss sie halt immer wieder mal erwähnen: Die Berner haben Samuel Kreis (24) ausgebildet, waren unfähig, sein Talent zu erkennen, und schoben ihn zeitweise in die Swiss League ab. Nun ist er in Biel Nationalverteidiger, ein wichtiges Element in der Überraschungsmannschaft der letzten zwei Jahre und hat, logisch, ein Angebot für die Rückkehr zum SCB abgelehnt.
Im gleichen Zeitraum kauften die Berner den gleichaltrigen Verteidiger-Nonvaleur Aurélien Marti ein, den sie inzwischen schon wieder nach Langenthal abgeschoben haben. Das hochkarätige Gottéron-Talent Andrea Glauser (ist in Langnau zum Nationalverteidiger gereift) haben die SCB-Scouts übersehen. Aber das nur nebenbei.
Noch krasser ist das Beispiel von Marco Müller, einer zentralen Figur beim Überraschungsteam Ambri, das soeben auswärts den Meister besiegt hat.
Auch er ist in Bern ausgebildet worden, auch bei ihm waren die hauseigenen Scouts blind und inzwischen führt er als Center Ambris ersten Sturm mit Dominic Zwerger und Dominik Kubalik.
Gerne reden sich die Verantwortlichen mit dem Hinweis heraus, einer müsse halt oft den Klub erst einmal verlassen, um zu reifen und um sich zu entwicklen.
Das ist – excusez l’expression – barer Unsinn. Talente können sehr wohl in der eigenen Organisation ausgebildet, gefördert und in der ersten Mannschaft aufgebaut werden. Bedingung ist allerdings erstens, dass diese Talente erkannt werden, und zweitens, dass sie eine echte Chance bekommen.
Marco Müllers Geschichte ist so oder so interessant. Er kommt aus einer grossen Hockeyfamilie. Sein Vater Viktor Müller ist in Olten eine Hockey-Legende. Er gehörte zum letzten NLA-Team der Oltner, das 1994 in der heute noch unvergessenen Playoutserie gegen Biel in die NLB abgestiegen ist. Die Entscheidung fiel im Penalty-Schiessen. Viktor Müller scheiterte im allerletzten Penalty an Biels Legende Olivier Anken und beide beendeten ihre Karriere. Olten ist seither nicht mehr in die höchste Spielklasse zurückgekehrt.
Marco Müller beginnt also seine Karriere in Olten, wechselt 2007 noch im tiefen Juniorenalter nach Biel und kommt ein Jahr später, nach wie vor Junior, schliesslich in Bern an. Beim SCB kümmert man sich um den jungen Oltner und sorgt dafür, dass er eine KV-Lehrstelle findet. Er lernt in Bern in einer der besten Nachwuchsorganisationen des Landes das Hockey-Handwerk von Grund auf. Rückblickend sagt er: «Bern war eine gute Lebensschule für mich und davon kann ich jetzt noch profitieren.»
Im Laufe der Saison 2016/17 kommt er an den entscheidenden Punkt seiner Karriere. Er ist gut genug für die höchste Liga. Aber in Bern kann er sich noch nicht durchsetzen. «Kari Jalonen gab mir eine Chance und viel Vertrauen. Aber es war für mich schwierig, in einer so gut besetzten Mannschaft jemanden aus den Top 9 zu verdrängen.»
Was nun? Sich «durchbeissen» beim SCB? Das Risiko wäre erheblich, zum «Hinterbänkler» zu werden und nie mehr aus dieser Rolle herauszukommen. Oder in einem «kleinen» Klub eine tragende Rolle übernehmen? In diesem Falle besteht das Risiko des Scheiterns. «Man hat mir beim SCB eine Offerte gemacht und mir in guten Gesprächen Möglichkeiten aufgezeigt.»
Es gibt zwei Interpretationsmöglichkeiten dieser klugen diplomatischen Aussage. Die eine ist die freundliche: Die Berner haben sein Talent erkannt, sehen aber keine Möglichkeit, Marco Müller einzusetzen.
Die zweite ist die realistische und kommt der Wahrheit wohl näher: Hätten die Verantwortlichen sein Talent tatsächlich erkannt, hätten sie auch eine Möglichkeit geschaffen, ihn einzusetzen.
Item, Marco Müller sucht die Herausforderung in Ambri. Es ist noch Ivano Zanatta, Paolo Ducas Vorgänger, der den Transfer über die Bühne gebracht hat. Ein anderer Klub als Ambri war nie im Spiel. Das sagt auch etwas über die Scouting-Abteilungen in dieser Liga. «Im Sommer 2017 habe ich nach Gesprächen mit Trainer Luca Cereda und dem neuen Sportchef Paolo Duca gespürt, dass mein Entscheid richtig war. Wir haben uns sofort sehr gut verstanden.»
Vom grössten Hockeyunternehmen der Schweiz zum letzten «Dorfclub» der höchsten Liga. Aus der Hauptstadt des Landes ins karge Bergtal der Leventina – ein grösserer Gegensatz ist kaum denkbar. «In Ambri geht es familiärer zu, man arbeitet sehr eng zusammen. Ich schätze es sehr, dass ich ein Teil dieser Mannschaft sein darf. Ich bekomme viel Eiszeit und Verantwortung und spüre das Vertrauen von Luca Cereda und Paolo Duca. Ich bin sehr glücklich in Ambri und tue alles, um dieses Vertrauen zu rechtfertigen. Ich glaube nicht, dass ich bei einem anderen Klub bessere Voraussetzungen finden könnte.»
Wie geht es weiter? Der Oltner ist zum Führungsspieler, zu einem der besten Schweizer Center gereift. Er hat in Ambri einen Vertrag bis 2020. «Ich habe mir noch keine Gedanken darüber gemacht, was dann sein könnte. Ich muss und will besser werden, ich muss mich jetzt erst einmal bestätigen. Ich bin glücklich in Ambri und schätze sehr, was ich in Ambri habe.»
Marco Müller ist am 21. Januar 1994 zur Welt gekommen. Es sind die letzten Tage der Oltner in der NLA. Ein paar Wochen später folgt der Abstieg. Es könnte durchaus sein, dass die Oltner im Frühjahr 2020 die Rückkehr auf die grosse Hockey-Bühne schaffen – und dann könnte Marco Müller beim EHC Olten eine tragende Rolle übernehmen. Der Vater im letzten, der Sohn im neuen NLA-Team der Oltner. Eine schöne Geschichte, die selbst Oltens Dichterfürsten Alex Capus («Der König von Olten») zu einem neuen Roman inspirieren könnte.
Oder zurück zum SCB? Nun, 2020 laufen die Verträge von dreien der wohl famosesten Transfers der neueren SCB-Geschichte aus. Die von Grégory Sciaroni, Matthias Bieber und Daniele Grassi. Nein, keine Polemik. Nur Fakten. Matthias Bieber, Daniele Grassi und Grégory Sciaroni haben in dieser Saison zusammen die SCB-Offensive mit 11 Skorerpunkten befeuert. Marco Müller hat diese Saison für Ambri alleine exakt doppelt so viele Punkte – 22 – für Ambri produziert. Noch Fragen? Eben. Und noch etwas. Keine Polemik. Nur Fakten: Grégory Sciaroni hat beim SCB diese Saison weniger Skorerpunkte (4) gebucht als Spielsperren provoziert (6).
Der SC Bern ist einer der wichtigsten Förderer unseres Hockeys. Die Berner überlassen ihre Talente der Konkurrenz und tragen dadurch sehr viel zur Ausgeglichenheit der Liga bei. Dieses Kompliment muss auch mal gemacht werden.
Wenn wir schon beim Thema Scouting sind: Dominic Zwerger wechselte aus der Nachwuchsabteilung des HC Davos nach Nordamerika – und die Davoser hatten weder sein Talent erkannt noch sich weiter um den Österreicher mit Schweizer Lizenz gekümmert. Ambri hingegen schon. Und so spielt er eben jetzt in Ambris erstem Sturm.
Und noch ein bisschen mehr zum Thema. Keine Polemik. Nur Fakten. Paolo Duca hat über eine längere Zeit sorgfältig in Tschechien eine Beziehung zu Dominik Kubalik aufgebaut, als die Grossklubs diesen Namen nicht einmal kannten.
Sven Leuenberger, der Sportchef der ZSC Lions, hat auch einen tschechischen Stürmer verpflichtet und für viel Geld Gottéron den Schillerfalter Roman Cervenka ausgespannt, der dort nie ein Führungsspieler war. Keine Polemik, nur Fakten. Dominik Kubalik hat soeben beim 4:3 n. V. gegen die ZSC Lions drei Tore erzielt und ist Liga-Topskorer (34 Punkte). Roman Cervenka hat aus gesundheitlichen Gründen diese Saison erst zwölf Partien bestritten (9 Punkte). Dominik Kubalik ist 23 und hat seine Zukunft noch vor sich. Roman Cervenka ist 33 und hatte schon zum Zeitpunkt seiner Vertragsunterschrift in Zürich seine Zukunft schon hinter sich.
Bei allen Unabwägbarkeiten eines unberechenbaren Sportes auf rutschiger Unterlage – gewisse Entwicklungen und Ereignisse sind nicht nur dem Zufall geschuldet. Ambri macht seine Hausaufgaben einfach besser als die Konkurrenz und ist deshalb das Überraschungsteam der Saison. Dieses Kompliment sollten wir öfter mal machen.
Mitarbeit: Kurt Wechsler