Sierre ist ungefähr so gross wie Olten oder Langenthal und hat eine reiche Hockeykultur. Meister ist Sierre zwar nie geworden. Aber vor kurzem wenigstens wieder in die zweithöchste Liga aufgestiegen. Doch was zählt schon die nationale Meisterschaft? Sierre ist eine Hockeykultur der grossen Namen.
Vor 40 Jahren trat hier im Herbst 1979 mit Jacques Lemaire zum ersten Mal in unserem Land ein NHL-Center auf, der soeben den Stanley Cup gewonnen hatte. Weil die Offerte von Sierre (70'000 Dollar steuerfrei pro Saison) damals besser war als das Angebot der Montréal Canadiens wechselte der 34-jährige Kanadier für zwei Jahre in die zweithöchste Liga der Schweiz. Er buchte in zwei Saisons in 66 Partien 132 Punkte. Für den Aufstieg reichte es trotzdem nicht.
Und nun also Nico Hischier (20). Einer, dem die Nordamerikaner eine Karriere wie jene von Jacques Lemaire zutrauen. Ein Titan unseres Hockeys. Er hat in der Kunsteisbahn Graben gegen Frankreich sein erstes Länderspiel zelebriert. In einer Arena, die so laut, so eng und so niedrig ist, dass der Besucher versteht, wie sich einst die Gallier fühlten. Sie hatten Angst, der Himmel könnte ihnen auf den Kopf fallen.
Nico Hischier ist ein Walliser. Nummer 1 im NHL-Draft von 2017. Soeben hat er seine zweite NHL-Saison mit New Jersey beendet (69 Spiele/47 Punkte) und bestreitet nun sein erstes Länderspiel. In seiner Heimat und doch nicht seiner Heimat: Er ist deutschsprachiger Oberwalliser und in Visp gross geworden. Aber Sierre ist Unterwallis und frankophon und Visp der Erzrivale. Die Walliser sagen, wenn es gelänge, die Leidenschaft von Sierre mit dem Management von Visp und dem Geld und der Chuzpe von Christian Constantin zu kombinieren, hätte man einen NHL-Klub.
Natürlich ist Nico Hischier beim Nationalmannschafts-Debüt einfach Walliser. Er wird zwar vor der Partie nicht mit irgendeiner speziellen Zeremonie geehrt. Ein neutraler Zuschauer merkt bis ins Schlussdrittel hinein nicht, welcher Spieler im roten Dress nun der berühmte NHL-Star ist.
Die «Standing Ovation», den langanhaltenden Jubel, stehend dargeboten samt Sprechhören gibt es erst für seine drei Treffer im letzten Drittel – dann aber kennt der Jubel keine Grenzen mehr. So ist das halt in Sierre: Ein Oberwalliser muss schon etwas Besonderes leisten, bis er im Unterwallis so richtig gefeiert wird. 4500 sind gekommen. Ausverkauft.
Die Partie ist so oder so von allem Anfang ein Fest. Immer wieder braust die «Olà-Welle» durchs Stadion. Die Franzosen, inzwischen nur noch WM-Hinterbänkler, sind die perfekten Gegner. Sie verderben das Spektakel nicht mit defensiver Spielweise.
Die Schweizer dominieren von Anfang an nach Belieben. Schon nach einem Drittel hätte es 5:0 oder 6:0 heissen können (15:3 Torschüsse). Sie treten noch ohne die Playoff-Finalisten und ohne Roman Josi und Yannick Weber an. Die beiden NHL-Verteidiger aus Nashville haben soeben die WM-Freigabe erhalten. Nationaltrainer Patrick Fischer sagt, er erwarte die beiden am nächsten Dienstag zum Training.
Und so konzentriert sich das Interesse erst recht auf Nico Hischier. Er führt einen nordamerikanischen Sturm an: Neben ihm fegen Kevin Fiala (Minnesota/NHL) und Vincent Praplan (Farmteam Florida) über die Aussenbahnen. Das Trio ist allerdings erst in der zweiten Spielhälfte unsere beste Linie.
Philipp Kurashev (19), eigentlich noch Junior und erst ganz zum Schluss der Saison für drei Partien Center in Chicagos Farmteam, dominiert mit Grégory Hofmann und Andres Ambühl am Flügel die ersten 30 Minuten und legt für Grégory Hofmann zum 1:0 auf. Schliesslich wird er den letzten Treffer zum 6:0 erzielen.
Nationaltrainer Patrick Fischer hat dieses formidable Debüt nicht überrascht. «Er hat ja fast die ganze Saison bei den Junioren gespielt und als wir ihn aufboten, wussten wir noch nicht, wie er sich gegen Erwachsene durchsetzen kann. Er war aber bei uns im Training so gut, dass mich dieses gute Debüt nicht mehr überrascht hat.»
Philipp Kurashev ist wahrscheinlich auf dem ersten Meter der schnellste Schweizer. Ein spektakulärer, dynamischer Läufer und Spielmacher. Obwohl er fast die ganze Saison in Nordamerikas Junioren-Hockey gespielt hat (59 Spiele/65 Punkte), ist er schnell und robust genug für eine «richtige» WM. Die Nummer 120 (Chicago) des NHL-Drafts von 2018 war bereits bei den U20-Titelkämpfen mit sieben Punkten aus sieben Partien der Topskorer unseres Halbfinalteams.
Nico Hischier kommt beim 2:0 mit dem zweiten Assist (den ihm die Schiedsrichter aber nicht geben) zu seinem ersten inoffiziellen Skorerpunkt, ehe er im Schlussdrittel mit einem «Hattrick» zum 3:0, 4:0 und 5:0 seine ersten nationalen Treffer zelebriert.
Er dominierte das Spiel auf sehr ähnliche Art und Weise wie in der NHL: mehr durch seine phänomenale Intelligenz als durch spektakuläre Läufe. In der Art der ganz grossen Center.
Er gibt nach dem Spiel freundlich und bescheiden Auskunft. Es sind die üblichen Statements. Nico Hischier ist kein Mann der Polemik und der grossen Worte. Er ist ein Mann der starken Taten. Er wirkte so ruhig und gelassen wie nach seinem NHL-Debüt am 7. Oktober 2017 mit New Jersey gegen Colorado. Er war damals optisch eher noch auffälliger als nun beim Nationalmannschafts-Debüt, blieb aber beim 4:1-Sieg im ersten NHL-Spiel noch ohne Skorerpunkt.
Natürlich ist ein Sieg gegen dieses Frankreich erst einmal eine Pflichtübung. Diese Partie sagt noch nichts darüber aus, ob wir an der WM wie ein Vorjahresfinalist auftrumpfen und unser Spiel auch gegen mehr Widerstand so durchsetzen können.
Und doch: Die Ausbeute mag mit sechs Treffern bei 29:17 Abschlüssen eine bescheidene sein. Aber die offensive Wucht und Dynamik waren bemerkenswert. Die Schweizer setzten das von Patrick Fischer geforderte «totale» Hockey um. Vor allem haben wir mit Philipp Kurashev und Nico Hischier zwei sehr starke neue Center gesehen. Noch immer dreht sich das Spiel einer Mannschaft um die Mittelachse, also um die Mittelstürmer.
Für die WM wird diese Offensive nun noch mit ein paar Playoff-Finalisten zusätzlich befeuert. Das sind gute Aussichten.