Eigentlich sollte Pius Suter lediglich im Farmteam (GCK Lions) spielen. Bei der Entwicklung einer sehr guten Mannschaft zu einem Meisterteam ist es wenig hilfreich, einen Stürmer zu beschäftigen, der im Dezember oder Januar sowieso wieder geht.
So war sinngemäss die Rede von ZSC-Sportchef Sven Leuenberger im Frühherbst. Als die ZSC Lions noch kein Spiel bestritten und somit auch noch keines verloren hatten. Und allenthalben als ganz grosse Favoriten auf einen erneuten Qualifikationssieg und den Titel galten.
Inzwischen haben die Zürcher nicht nur Pius Suter wieder ins Team geholt. Mit dem 19-jährigen Jahrzehnttalent Marco Rossi haben sie gleich einen zweiten Stürmer verpflichtet, der in Zürich bloss seine Wartezeit auf den NHL-Start verbringt. Warum dieser Meinungsumschwung? Ganz einfach: Die ZSC Lions bilden auf vorbildliche Art und Weise Spieler aus, unter anderem auch Pius Suter und Marco Rossi. Aber ganz oben in der Leistungspyramide, bei der ersten Mannschaft, zählt nur der Sieg. Also wird alles für den Sieg getan. Also werden Pius Suter und Marco Rossi temporär herbeibeordert.
Diese kompromisslose Haltung zeichnet grosse Sportorganisationen aus. Auch bei Bayern München ist es nicht viel anders. Nach den zwei schmählichen Niederlagen gegen Zug (3:6 und 2:8) bleibt Sven Leuenberger gar nichts anderes übrig, als Pius Suter und Marco Rossi ins Team zu holen. Hätte er darauf verzichtet, hätte er die Siegermentalität, die DNA seiner Organisation ignoriert.
Bisher hielt sich Pius Suter bei den GCK Lions fit (6 Spiele/5 Punkte). Dieses Engagement war befristet bis Ende Oktober. Die offizielle Begründung für den Umzug ins Hallenstadion von Sven Leuenberger tönt so: «Nun äusserte Pius den Wunsch, wieder in der National League zu spielen, um sich noch optimaler auf die NHL-Saison vorzubereiten. Und da er einer von uns ist, möchten wir Pius auch wieder im ZSC-Trikot sehen.»
Seit Anbeginn der Zeiten erliegen die Sportchefs – in der NHL die General Manager – immer wieder dem Charme, der betörenden Erotik des offensiven Talentes. Was die ZSC Lions im Herbst 2020, das waren die Colorado Avalanche im Herbst 2003. Ein reizvoller, aufschlussreicher Vergleich.
Colorado holt 1996 und 2001 den Cup von Lord Stanley. Im Frühjahr 2003 folgt ein blamables Ausscheiden in der ersten Runde gegen Minnesota und der Rücktritt von Torhütertitan Patrick Roy. Aber nun soll es wieder zum finalen Triumph reichen. Es ist die letzte Saison mit freier Markwirtschaft und unbegrenzten Einkaufsmöglichkeiten. Nach der Spielzeit 2003/04 werden die Teambesitzer die Salär-Beschränkung durchsetzen.
Colorados General Manager Pierre Lacroix stellt das beste Ensemble der Klubgeschichte zusammen. Den schon formidabel besetzten Sturm mit dem langjährigen Captain Joe Sakic, Alex Tanguay, NHL-Topskorer Peter Forsberg und NHL-Torschützenkönig Milan Hejduk ergänzt er mit den Superstars Paul Kariya und Teemu Selänne. Mehr offensive Feuerkraft geht nicht. Der Kanadier und der Finne wechseln nicht des Geldes wegen von Anaheim in die Rocky Mountains. Die zwei Kumpels wollen in erster Linie den Stanley Cup holen. Paul Kariya akzeptiert 88 Prozent weniger Salär als zuvor in Anaheim. Die Hockey-Bibel «The Hockey News» schreibt über die Stärken des Teams: «Offense, offense and more offense». Das Powerplay wird gar als «best of all time on paper» gerühmt.
Mit dieser offensiven Aufrüstung soll die einzige Schwäche kompensiert werden: Während die Offensive von der «Hockey News» die maximale Bewertung «A+» und die Verteidigung immer noch «A» bekommt, wird Torhüter David Aebischer, der Nachfolger von Patrick Roy, bloss mit «C» bewertet. Detail am Rande: Auch die ZSC Lions machen im Herbst 2020 mit Ludovic Waeber einen bei Gottéron ausgebildeten Goalie zur Nummer 1.
Heute wissen wir: Es hat nicht funktioniert. In den Playoffs ist schon in der zweiten Runde gegen San José Lichterlöschen. David Aebischer ist nicht das Problem (Playoff-Fangquote 92,20 Prozent). Der hochgelobte Sturm ist gegen San José mit 7 Toren in 6 Spielen bloss ein laues Lüftchen. Eine Partie geht 0:1 verloren, eine wird 1:0 gewonnen. Teemu Selänne und Paul Kariya spielen die schwächste Saison ihrer grandiosen Karriere, erzielen in den Playoffs kein einziges Tor und verlassen Denver nach nur einem Jahr schon wieder. Seither ist Colorado nie mehr in die Nähe des Stanley Cups gekommen und hat bis heute acht Mal die Playoffs verpasst.
Was Colorado damals, das sind die ZSC Lions heute erst recht nach der temporären Anstellung von Pius Suter und Marco Rossi: ein offensiv schier unfassbar gut besetztes Team, das ebenfalls drei Jahre nach dem letzten Titel nun unbedingt wieder Meister werden will. Ja, nie seit der Einführung der Playoffs (1986) ist so viel offensives Talent in einer Kabine versammelt worden. Nicht einmal in Lugano.
Ein NHL-Erstrundendraft, 11 Schweizer Nationalstürmer (7 davon mit WM-Erfahrung) plus drei erstklassige ausländische Stürmer. Ein «Dream-Team». «The Hockey News» würde über die Qualitäten das gleiche sagen wie damals über Colorado: «Offense, offense and more offense». 15 Stars, die sich zwölf Plätze im ZSC-Angriff teilen müssen. Auf den ersten Blick eine beneidenswerte Situation für Cheftrainer Rikard Grönborg. In Tat und Wahrheit treibt zu viel offensives Talent einen Coach eher zur Verzweiflung als zu wenig. Wer hat bei so viel Talent noch Sinn für Spielsysteme, Taktik und Disziplin? Eben.
Das Beispiel von Colorado erklärt uns also 17 Jahre später ein wenig die aktuellen Schwierigkeiten der ZSC Lions. Eine zu starke offensive Ausrichtung kann das ohnehin diffizile Gleichgewicht zwischen Angriff und Verteidigung, zwischen Spiel und Arbeit, zwischen Disziplin und Kreativität, zwischen Selbstvertrauen und Arroganz und zwischen Egoismus und Teamgeist und damit die Chemie in der Kabine empfindlich stören. Selbst bei tadelloser Arbeitseinstellung.
Bei Colorado hat die maximale offensive Aufrüstung also vor fast 20 Jahren nicht funktioniert. Andere Zeiten, gleiches Problem: Im Hallenstadion funktioniert sie zumindest im Herbst 2020 auch noch nicht: Vier Niederlagen und ein negatives Torverhältnis nach 11 Spielen. 3,27 Gegentore pro Partie. 2,48 waren es letzte Saison. Und vorne läuft es auch nicht besser: 3,18 Treffer pro Spiel. 3,32 waren es letzte Saison. Der Fluch von zu viel offensivem Talent.
Ob die Saison 2020/21 zu Ende gespielt werden kann, wissen wir nicht. Geht alles wie geplant über die Bühne, dann wechseln Pius Suter und Marco Rossi im Dezember in die NHL nach Chicago bzw. Minnesota. Was wird ihr Gastspiel dann den ZSC Lions gebracht haben? Erstens: unabhängig vom sportlichen Erfolg eine Bereicherung für die ganze Liga, eine Steigerung des Unterhaltungswertes und zweitens eine wohlfeile Ausrede. Holen die Zürcher den Titel nicht, dann können sie sagen: Wenn der Suter und der Rossi bis zum Saisonende geblieben wären, wären wir Meister geworden.
Und die Fans werden es noch so gerne glauben.
Aber kein Grund zur Sorge, Flüeler ist ein extrem guter Play Off Goalie.
Die Swiss League ist wahrscheinlich nicht geeignet um NHL Niveau zu erreichen. Zudem weiss man sowieso nicht was in einigen Monaten ist,da wäre es Schade die Talente versauern zu lassen.
Allerdings könnte der Konkurrenzkampf auch dazu führen, dass der Coach durchsetzen kann, dass sich die Spieler an die taktischen Vorgaben halten. Grönborg kann die "Belohnung", spielen zu können, davon abhängig machen, wie gut seine Anweisungen umgesetzt werden.
So gesehen ist nicht sicher, ob Suter und Rossi tatsächlich zum Unterhaltungswert beitragen können. Aber eventuell werden die Löwen ab sofort mehr gewinnen als zuvor.
okee