«Ich weiss es nicht. In der Schweiz haben wir ziemlich viele Tiere und darunter auch ein paar Ziegen», sagt Roger Federer vor den US Open, als ihn ein Kind fragt, wieso man ihn eigentlich Goat nenne. Das war natürlich gelogen, denn Federer weiss genau, was es mit diesem Ausdruck auf sich hat, der seit Rafael Nadals drittem Erfolg in New York wieder in aller Munde ist. Goat steht im englischen Sprachraum nicht nur für «Ziege», sondern dient auch als Akronym für die Bezeichnung nach dem Grössten der Geschichte, dem «Greatest of all Time». In diesem Fall geht es um die Frage, wem denn nun dieser Beiname eher zusteht: Roger Federer oder Rafael Nadal.
Selbst wenn bloss nackte Zahlen und Fakten als Richtwert herangezogen werden, ist es kaum möglich, diese Frage abschliessend zu beantworten, zumal Federer und Nadal ihre Karrieren noch nicht beendet haben. Zwar hat der Schweizer noch in allen Statistiken die Nase vorne. Er führte während 302 Wochen die Weltrangliste an, der Spanier nimmt am Montag die 146. Woche an der Spitze in Angriff. Federer gewann bisher 19 Grand-Slam-Titel, Nadal stemmte bei den US Open zum 16. Mal eine Major-Trophäe in die Höhe. Doch der 36-jährige Federer ist auch knapp fünf Jahre älter.
Federers und Nadals Karrieren im gleichen Alter zu vergleichen? Eine reizvolle Spielerei, mehr nicht. Eine aber, die zeigt, dass der Schweizer die Nase überall leicht vorne hat. So hatte er 2012, im Jahr, in dem er sein 31. Altersjahr vollendete, 17 Grand-Slam-Titel gewonnen, und damit einen mehr als Nadal. Daraufhin folgte aber eine fünfjährige Dürreperiode, die erst im Januar bei den Australian Open endete.
Derzeit ist nur schwer vorstellbar, dass Nadal in den nächsten Jahren leer ausgehen wird, was die Diskussionen um das «Ziegen-Prädikat» zusätzlich befeuert. «Wir werden die 19 Titel von Federer erreichen», sagt Nadals Onkel und scheidender Trainer Toni, nachdem sein Schützling erstmals seit Januar 2014 wieder ein Turnier auf einem Hartbelag hat gewinnen können.
Angesichts der Altersdifferenz von fünf Jahren zwischen Federer und Nadal teilt Ex-Spieler Mats Wilander diese Ansicht. «Er wird die French Open sicher noch mindestens zwei Mal gewinnen. Und wer glaubt, dass er körperlich ausbrennen wird, liegt falsch.» Bei Federer hingegen sieht der Schwede Fragezeichen: «Glaube ich, dass er im Jahr, in dem er 37 wird, ein Major-Turnier gewinnt? Ich weiss es nicht.»
Nadal selber foutiert sich, zumindest oberflächlich, nicht um diese Diskussionen. «Roger geht seinen Weg, ich gehe meinen. Ich denke nicht wirklich darüber nach», sagt er. Ihm sei es wichtig, dass er gesund sei und das Tennis geniessen könne. Wie Federer sei er hungrig auf Erfolge.
Ohnehin würde die Fokussierung auf Zahlen den beiden nicht gerecht, findet Ex-Profi Pat Cash: «Wir sind besessen von diesem Hype. Dabei sind diese Spieler einfach glücklich, auf dem Tennisplatz zu stehen und sich messen zu dürfen.» Tatsächlich greift es zu kurz, die Rivalität der beiden auf den Vergleich nackter Zahlen zu beschränken. Sie haben das Tennis auch sonst verändert.
Als der als Hitzkopf abgestempelte Andrey Rublew (19) nach seiner Viertelfinal-Niederlage gegen Nadal den Platz verlässt, legt er auf dem Weg in die Kabine einen Stopp ein, verteilt Unterschriften an Fans und posiert für Fotos. Was zu Zeiten von John McEnroe und Jimmy Connors undenkbar war, ist heute Usus.
Vorgelebt wird diese Kultur von Nadal und Federer. «Mir sind Respekt und Toleranz enorm wichtig. Das sage ich meinen Kindern. Immer nett und höflich sein», erklärt der Schweizer im April. Federer und Nadal sind Begründer, Präger und Träger dieses Umgangs.
Beenden sie dereinst ihre Laufbahn, werden mit Sicherheit Zahlen gewälzt, um die Frage nach dem Grössten, dieser «Ziege», zu beantworten. Doch Zahlen sind nur eine Dimension der Rivalität. Eine andere sind die Emotionen, die sie auslöst und die Geschichten, die sie noch immer schreibt. Die Frage, wer der Grösste der Geschichte ist, ist unbedeutend. Ziegen sind ohnehin Herdentiere.