Das Experiment von Jürgen Klopp war mit grossem Risiko behaftet, doch am Ende ging für den deutschen Kulttrainer mal wieder alles perfekt auf. Obwohl er freiwillig auf Toptorschütze Mohamed Salah und dessen kongenialen Sturmpartner Roberto Firmino verzichtete und insgesamt fünf Änderungen vornahm, gewannen seine «Reds» das Merseyside-Derby gegen Stadtrivale Everton mit 5:2.
Viele Fans trauten ihren Augen nicht, als sie vor dem Spiel die Aufstellung sahen, und befürchteten bereits das Schlimmste. Doch auf dem Platz war dann alles wie immer: Balleroberung in der Defensive, blitzschnelles Umschalten, tödlicher Pass in die Tiefe, eiskalter Abschluss. Nur hiessen die Vollstrecker gegen die «Toffees» nicht Salah oder Firmino, sondern Divock Origi und Xherdan Shaqiri.
Vor allem die Leistung des zuletzt dauerverletzten Schweizers, der erstmals nach sieben Monaten wieder in der Startformation stand und auf dem rechten Flügel auf Salahs Position zum Einsatz kam, fand in Liverpool grossen Anklang. «Sein Tor war brillant, das Timing seines Laufs auf den Pass von Mané perfekt. Noch beeindruckender war aber sein Einfluss aufs gesamte Spiel», schrieb Experte Joel Rabinowitz in seiner Analyse auf dem ambitionierten Fan-Blog liverpool.com.
YES BIG SHAQ! 🔥
— Liverpool FC (@LFC) December 5, 2019
Incredible @trentaa98 ball 😱
Brilliant touch, run and pass from Sadio 💫
Superb finish from @XS_11official ⚽️
BEAUTIFUL 🤩 pic.twitter.com/kiMUHBuYAq
«Shaqiri zeigte raffinierte Tricks, genau im richtigen Moment, und hatte trotzdem das taktische Verständnis, den Ball mal anzunehmen, den Kopf zu heben und den einfachen Pass zu spielen, um das Tempo wo nötig zu verlangsamen. Zwischendurch tauchte er gar auf der rechten Verteidiger-Position auf, um seine Aufgaben im Spiel gegen den Ball zu erfüllen.»
Das fehlende Defensiv-Bewusstsein wurde Shaqiri seit seiner Ankunft in Liverpool immer wieder vorgehalten und ist mit ein Grund, weshalb er es beim Champions-League-Sieger nie zum Stammspieler geschafft hat. Im von Klopp bevorzugten 4-3-3-System ist das Spiel des 28-jährigen «Kraftwürfels» für die rechte Mittelfeld-Position zu direkt und risikobehaftet, der Deutsche bevorzugt die defensiveren Jordan Henderson oder James Milner. Und auf dem rechten Flügel gibt es für Shaqiri schlicht kein Vorbeikommen an Salah.
Deshalb wird Shaqiri in Liverpool auch in dieser Saison nicht mehr in die erste Garde vorstossen, auf dem Weg zum langersehnten ersten Meistertitel seit 1990 könnte dem Schweizer aber dennoch eine Schlüsselrolle zukommen. Weil auf die «Reds» mit Spielen in vier Wettbewerben (Premier League, Champions League, League Cup und Klub-WM) ein Marathon-Programm wartet und es in England keine Winterpause gibt, wird er weiter Spielpraxis sammeln und dafür sorgen, dass sich Salah, Firmino und Sadio Mané weiterhin die eine oder andere Pause gönnen können.
«Er versteht, dass wenn man viele Spiele gewinnt, man nicht 20 Wechsel durchführt», erklärte Klopp und gab Edeljoker Shaqiri, der schon bei Bayern München in einer ähnlichen Situation war, gleichzeitig Aussicht auf mehr Spielzeit: «Es war immer klar, dass wir in dieser Zeit des Jahres alle Jungs brauchen.»
Ein frischer und gut aufgelegter Shaqiri kann für Liverpool vor allem dann wichtig werden, wenn der Champions-League-Sieger gegen eine tief stehende Abwehr vom gewohnten 4-3-3 auf ein 4-2-3-1 ausweicht. Wenn es ganz vorne keine Lösungen gibt, hat er im Halbfeld die nötige Zeit und den Raum, dank seiner Kreativität Gefahr zu kreieren. Shaqiri kann öffnende Pässe in die Tiefe spielen, gefährliche Flanken in den Strafraum schlagen oder selbst in die Mitte ziehen.
Neben dem Platz hat Shaqiri eine deutliche grössere Rolle. Dank seiner aufgestellten Art gehört er zu den beliebtesten Spielern bei Mannschaft und Fans. Ausserdem hat Shaqiri den meisten seiner Teamkollegen etwas voraus: Er weiss, wie man eine Meisterschaft gewinnt. Das mag nach Stammtischgerede klingen, darf aber nicht unterschätzt werden. Zwar war Shaqiri bei seinen drei Titeln mit den Bayern auch nur Ergänzungsspieler, doch seine Erfahrung in heiklen Situationen kann der Mannschaft durchaus helfen. Und mit dem FC Basel wurde er ja auch drei Mal Meister. Ein Meisterrennen wird nicht nur auf dem Platz, sondern auch im Kopf entschieden.
Mit den Worten von Shaqiri: «Ich habe einen gewissen Status im Team, weil ich einer der erfahreneren Spieler bin», erklärte er Anfang Oktober gegenüber der «Schweizer Illustrierten». Und er schob nach: «Ich denke schon, dass ich zu den Leadern gehöre.» Ein Leader, der vielleicht nicht ständig auf dem Platz steht, aber in den entscheidenden Momenten seine unbestrittenen Qualitäten ausspielen kann.