Es ist wieder einmal soweit: Die tennisverrückte Schweiz muss für Donnerstag den Morgen umplanen. Roger Federer spielt gegen Novak Djokovic voraussichtlich um den Einzug in seinen 32. Grand-Slam-Final. Denn ob Federer, der Leistenbeschwerden hat, überhaupt antreten kann, ist noch nicht sicher.
Trainer Severin Lüthi zeigte sich heute nicht sonderlich zuversichtlich: «Ich hoffe, Roger fühlt sich morgen besser.» Sollte der Schweizer körperlich angeschlagen antreten, wird es gegen Novak Djokovic sowieso ein Ding der Unmöglichkeit.
Auch wenn Federer spielen kann, geht er als klarer Aussenseiter in die Partie – und dennoch gibt es Grund zur Hoffnung. Wir haben für die Beantwortung der wichtigsten Fragen Unterstützung von Tennis-Experte Laurent Rueff erhalten.
Laurent Rueff: Leider kann man diesen überragenden 6:4, 6:3-Sieg in der Round Robin an den ATP Finals in London zum Jahresende 2019 nicht als Grundlage für das Duell morgen nehmen. Dazu ist die Ausgangslage einfach zu unterschiedlich.
In London fand die Partie in der Halle statt, was Federer, der ein unglaublicher Perfektionist ist, entgegenkommt. Nicht beeinflussbare Faktoren wie der Wind machen es viel schwieriger für ihn. Djokovic hingegen ist anpassungsfähiger und zieht sein Ding – fast schon wie ein Roboter – konsequent durch. Den könntest du wahrscheinlich um 4 Uhr nachts wecken und eer würde dir umgehend die Bälle von der Grundlinie in die Ecken pfeffern.
Für Federer muss hingegen alles stimmen, kleinste Abweichungen können sein Spiel entscheidend stören. Die Halle ist so etwas wie ein Schutzmantel für seine Perfektion.
Zudem braucht es in Australien ungleich zu London bekanntlich drei Gewinnsätze, um als Sieger vom Platz zu gehen, was unter anderem wegen der besseren Fitness eher Novak Djokovic entgegen kommt.
Der Aufschlag von Roger Federer war am diesjährigen Australian Open noch nicht die gewohnte Waffe. Durchhänger wie gegen John Millman und Tennys Sandgren kann er sich nicht erlauben.
Der Service ist der simpelste Gewinnschlag – doch gegen Novak Djokovic braucht es eine Sonderleistung für jeden Servicepunkt (Ass oder Servicewinner). Djokovic gilt als bester Returnspieler der Welt, weil er nicht nur beweglich und reaktionsschnell ist, sondern auch sehr gut antizipiert. Deshalb muss Roger Federer sein ganzes Repertoire an variantenreichen Aufschlägen auspacken, um den Serben immer wieder zu überraschen.
Bisher kommt Federer am Australian Open auf folgende Aufschlags-Quoten:
Diese Quoten muss er gegen den starken Rückschläger Djokovic mindestens erreichen, wenn er mehr oder weniger sorgenfrei durch seine Aufschlagsspiele kommen möchte.
«Gratispunkte» bei eigenem Aufschlag werden ein entscheidender Faktor sein. Damit Federer frei aufspielen kann, darf nicht ständig die Angst über ihm schweben, dass er seinen Service abgibt.
Federer muss sich etwas einfallen lassen, um Djokovic vor eine Aufgabe zu stellen, die er nicht erwartet. Sobald Federer die Kontrolle über die Ballwechsel verliert, wissen wir, wie es rauskommt.
Federer muss es schaffen, Djokovic von der Grundlinie wegzulocken, der Serbe muss raus aus seiner Komfortzone – sonst ist er schier unbesiegbar. Federer hat grundsätzlich das bessere Händchen, spielt bessere Stoppbälle, ist am Netz deutlich überlegen und hat generell ein breiteres Repertoire an Schlägen, die er perfekt beherrscht. Der Schweizer darf sich von der Djokovic-Maschinerie nicht einlullen lassen; alles was von einem Standard-Ballwechsel abweicht, ist grundsätzlich gut.
Bei den Grundlinienschlägen sollte Federer zwar variieren, aber mehrheitlich auf den Slice statt den Topspin setzen. Je tiefer der Ball bleibt, desto schwerer wird es für Djokovic, zu seinem Spiel zu finden.
Gegen Defensivkünstler Djokovic ist es aber auch mit Offensivtennis schwierig zu punkten. Federer muss den Serben irgendwie aus dem Konzept bringen, seine beeindruckende Routine durchbrechen und dadurch verhindern, dass er sich wohlfühlt.
Die Chancen auf den Final-Einzug von Roger Federer sind so oder so klein. Bei den Buchmachern hat Djokovic eine Quote von 1.13, bei einem Federer-Sieg gibt's das 5.75-fache zurück.
Sollte Federer das Spieldiktat mit seinem Aufschlag, seiner Vorhand und erfolgreichen Netzangriffen früh übernehmen können und den ersten Satz für sich entscheiden, könnte das Momentum kippen. Denn nach einem gewonnenen Startsatz spielen Faktoren wie die Fitness und der aktuelle Formstand plötzlich keine so tragende Rolle mehr. Ein gewonnener Startsatz könnte morgen dementsprechend doppelt wichtig sein. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein abgeschriebener Federer alle überrascht.
Natürlich wünsche ich mir, dass ich ihm Unrecht bin und Federer morgen ein weiteres Wunder schafft. Drücke auf jede Fall alle Daumen.
Das ist eine erstaunliche Quote. Ich stufe Djokovic zwar allgemein auch stärker ein, aber nicht so extrem. Hat wohl mit der möglichen Verletzung zu tun?