Der erste Skandal ist ein juristischer: Eine Kollektivstrafe – und nichts anderes ist der Ausschluss des russischen olympischen Komitees – widerspricht jeder Auffassung einer Rechtsstaatlichkeit. Darüber hinaus würde die lebenslängliche Sperre (für den ehemaligen Sportminister Witali Mutko) von jedem ordentlichen staatlichen Gericht in der Luft zerrissen. Lebenslänglich gibt es in manchen westlichen Staaten nicht einmal für Mord. Und ganz nebenbei: Witali Mutko spielt bei der kommenden Fussball-WM in Russland eine zentrale Rolle.
Der zweite Skandal ist die Unfähigkeit der zuständigen Welt-Doping-Agentur (Wada), im Rahmen der Olympischen Spiele 2014 ordentliche Dopingkontrollen durchzusetzen. Vereinfacht und verständlich erklärt: Die Rechtshoheit über die Orte, bei denen die Proben entnommen worden sind, hatte nie der russische Staat. Die lag immer beim IOC bzw. den Fachverbänden. Die Wada hatte also die Möglichkeit, ungehindert ordentliche Dopingkontrollen mit neutralen Kontrolleuren durchzuführen und in unabhängigen und verlässlichen Labors auswerten zu lassen. Dass die Wada dazu nicht in der Lage war, zeigt, wie heillos überfordert und unfähig die Dopingjäger sind. Es ist schon eine unfassbare Naivität, Dopingkontrolle der russischen Dopingagentur zu überlassen.
Der dritte Skandal ist die Führungsschwäche der olympischen Bewegung. Das IOC-Exekutiv-Komitee, das Führungsgremium des olympischen Sportes, mahnt an die ehemalige DDR-Regierung, deren Chef Walter Ulbrich, als es darum ging, den westlichen Lebensstandard zu übertreffen, den Spruch prägte: «Überholen ohne einzuholen.» Nun gilt die Losung beim IOC: «Strafen ohne wirklich zu strafen.»
Einerseits ein Ausschluss des russischen olympischen Komitees – aber dann doch nicht für die, die angeblich dopingtechnisch sauber sind. Ein bisschen Russen strafen, weil das ja auch weltpolitisch sexy ist und gut in den westlichen Medien-Mainstream passt. Ein bisschen Empörung wegen des Dopingskandals, um die öffentliche Meinung zu beruhigen. Aber dann halt nicht konsequent ausschliessen, nur so ein wenig strafen, aber allerlei Hintertürchen offen lassen, weil man es sich mit Wladimir Putin doch nicht ganz verderben will – welch jämmerliche, welch lächerliche Figur gibt das Exekutiv-Komitee um IOC-Präsident Thomas Bach ab. Denn sie wissen nicht mehr, was sie tun sollen.
Nun ist das Chaos perfekt. Das Herzstück der Olympischen Spiele ist das Eishockeyturnier. Zwei Monate vor den Spielen weiss nun niemand mehr, was Sache ist.
In den nächsten Tagen muss nun René Fasel, Mitglied des IOC und Präsident des internationalen Eishockeyverbandes (IIHF), verbindliche Antworten auf mindestens sieben Fragen liefern:
Und letztlich verrückt: Wenn die Russen und die in der KHL unter Vertrag stehenden Spieler der anderen Nationen nicht teilnehmen dürfen – dann ist für die Schweiz der Gewinn der ersten Olympia-Medaille seit 1948 das Minimalziel.
Wen die Hockeygötter lieben, den züchtigen sie: Ausgerechnet René Fasel hat diesen olympischen Skandal auszubaden und die grösste olympische Hockey-Krise seit 1948 zu lösen.
Seit seinem Amtsantritt im Jahre des Herrn 1994 hat der ehemalige Zahnarzt als IIHF-Vorsitzender mehr für die internationale Entwicklung des Eishockeys getan als jeder seiner Vorgänger seit 1908. Er wird, unabhängig vom Ausgang des aktuellen Olympia-Skandals, als einer der grössten Sportdiplomaten in die Geschichte eingehen. Er hatte bereits in den Zeiten des «Kalten Krieges» viel zur Entspannung beigetragen und seine Hockey-Geheimdiplomatie ermöglichte unter anderem zu Beginn der 1990er Jahre den Wechsel von Bykow und Chomutow zu Gottéron.
Er brachte die nordamerikanischen Erzkapitalisten dazu, den NHL-Stars ab 1998 die Teilnahme am olympischen Turnier zu erlauben. Bis heute die grösste und viel zu wenig gewürdigte Leistung der internationalen Hockey-Diplomatie. Und nun droht ein olympisches Eishockeyturnier ohne «seine» Russen. Wegen einer Dopinggeschichte, die mit dem Eishockey nichts zu tun hat. Nachdem bereits die NHL-Stars fehlen werden, weil die NHL-Klubs nicht mehr bereit sind, eine olympische Pause einzulegen.
Es wären die ersten olympischen Spiele ohne die Russen seit deren Einstieg ins internationale Eishockey im Jahre 1954. Welch eine bittere Ironie der Hockeygeschichte: Das letzte olympische Hockeyturnier in René Fasels Amtszeit ausgerechnet ohne «seine» Russen. Darüber könnte ihn nur noch ein Titelgewinn von Gottéron einigermassen hinwegtrösten.