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Das Rätsel um Bruchpilot Tom Lüthi – oder der programmierte Eklat

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Der Saisonstart war für Tom Lüthi einer zum Vergessen.Bild: EPA/EFE
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Das Rätsel um Bruchpilot Tom Lüthi – oder der programmierte Eklat

Er hat die Saison als Titelfavorit begonnen und nach zwei Rennen ist er ein Bruchpilot und der Titel-Traum schon vorbei: Es ist der dramatischste Rückschlag seiner Karriere und der Eklat im Team ist programmiert. Es wäre reizvoll, wenn sich Dominique Aegerter für ein Rennen auf Tom Lüthis Maschine setzen würde.
19.07.2020, 14:1819.07.2020, 15:18
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Bloss Platz 10 beim Saisonauftakt in Katar und nun chancenlos auf einen Spitzenplatz und Sturz beim zweiten Rennen in Jerez. Was ist mit Tom Lüthi los? Diese Frage müsste eigentlich leicht zu beantworten sein. Über keinen anderen Moto2-Piloten ist schon so viel geschrieben und gesendet worden. Der 33-jährige Berner hält gleich mehrere Rekorde: am meisten Rennen hintereinander in den Punkten (119), am meisten Podestplätze (53), mit 1759 WM-Punkten die Führung in der «ewigen Rangliste» der zweitwichtigsten Töff-WM.

Aber bei der Wiederaufnahme der Moto2-WM in Jerez – das erste und bisher einzige Rennen ist am 8. März in Katar gefahren worden – ist die grosse Frage: Was ist mit dem 125er-Weltmeister von 2005 los? Aus dem Titelkandidaten ist ein Bruchpilot geworden. Ja, die Spekulationen, er sei durch Sturzblessuren handicapiert, wollen einfach nicht verstummen.

Aus gutem Grund: Die ersten offiziellen Tests Mitte Februar in Jerez hatte er nach Belieben dominiert. Seine Kombination aus Talent, technischem Verständnis und Erfahrung war unschlagbar. Es schien möglich, dass er dieses Jahr nach zwei 2. Plätzen (2016 und 2017) zum WM-Titel zu brausen vermag. Nun ist der Titel bereits verspielt. Die Resultate sind ernüchternd: 18. im Training und 10. im Rennen in Katar. 19. im Training und Sturz nach 20 von 23 Runden auf hoffnungsloser 11. Position in Jerez.

Im Formtief – aber warum?

Ist Tom Lüthi durch Stürze zu stark durchgeschüttelt worden? Diese Frage steht im Raum. Er purzelte in den letzten Tests vor dem Saisonstart in Katar zweimal aus dem Sattel und noch einmal im Training zum GP von Katar. Und nun hatte es ihn in Jerez am ersten Trainingstag erneut erwischt. Nach einem «Highsider» wurde er in die Luft katapultiert und schlug schwer auf der Piste auf. Kein Wunder also, endete auch das Rennen durch ... einen Sturz.

Tom Lüthi versichert, er sei hundertprozentig fit. Und er hat auch im Vorfeld der Wiederaufnahme der WM in Jerez betont, er sei motiviert und fit wie nie. Er sagt, es sei bisher einfach nicht gelungen, die perfekte Abstimmung zu finden. «Es ist, als ob da eine Wand wäre.» So sieht es auch sein langjähriger Manager und Freund Daniel Epp, der das Geschehen von seiner Zweitheimat Prag aus verfolgte, weil in Jerez weder Gäste noch schreibendes und sendendes Personal oder TV-Kommentatoren zugelassen sind. Claude Jaggi kommentierte die Live-Übertragung vom Studio in Leutschenbach aus.

Die Frage, ob Tom Lüthi fit sei, geht auch deshalb an Daniel Epp, weil der sonst selbstbewusste Baselbieter in Katar vor dem ersten Rennen der Saison ungewöhnlich pessimistisch war und seinem Schützling ganz entgegen seiner Art keinerlei Chancen auf eine Spitzenklassierung eingeräumt hatte. Was sich als richtig erweisen sollte. Wusste also Epp etwas und verschwieg es? «Nein, nein. Es stimmt, ich war pessimistisch. Aber aus dem einfachen Grund, weil ich um die Abstimmungsschwierigkeiten wusste. Tom war auch in Katar absolut fit.»

Und so ist das Rätsel um den Bruchpiloten Tom Lüthi nach wie vor nicht gelöst. Wie kann es sein, dass einer, der die ersten Testtage im Februar fast nach Belieben dominiert hatte, nun sang- und klanglos ins Mittelfeld zurückgefallen ist? Kann Tom Lüthi, durchgeschüttelt von Stürzen, nicht mehr ans Limit gehen? Sind es Abstimmungsschwierigkeiten? Oder ist er ganz einfach nervös?

Lösung im technischen Bereich

Die Verunsicherung durch die Stürze spielt sicherlich eine Rolle. Erst recht in einem Sport, in dem ein Wimpernschlag über Sieg und Niederlage entscheidet und ein einziger Fehler ein GP-Wochenende ruinieren kann. Auch wenn keine Knochen brechen und der Körper unversehrt bleibt: Stürze hinterlassen Spuren im Selbstvertrauen. Bei erfahrenen Piloten, die den 30. Geburtstag hinter sich haben wie Tom Lüthi, wirken sie sich stärker aus als bei den jungen Wilden, die so fahren, als gäbe es kein Morgen. Aber der Absturz von ganz oben, vom Titanen, der alle im Griff hatte, auf den 14. Platz im Gesamtklassement nach zwei Rennen ist wahrhaftig ungewöhnlich.

Ist Tom Lüthi dem Erwartungsdruck nicht gewachsen? Zuckt er vor dem zu Spitzenplätzen notwendigen Risiko zurück? Nein, das ist nicht die Erklärung. So sensibel der Emmentaler auch sein mag: Er gehört zu den erfahrensten GP-Piloten überhaupt. Der 17-fache GP-Sieger fällt nicht ins Mittelfeld zurück, weil von ihm der WM-Titel erwartet wird oder weil er das Risiko scheut. Er hält die «mentale Drahtbürste» aus, er hat schwere Verletzungen überwunden. Wie nach den unverschuldeten Sturzverletzungen bei Tests im Frühjahr 2013, die ihn die zwei ersten Saisonrennen gekostet hatten. Er weiss zu gut: Wird aus einem Rennfahrer ein von Zweifeln geplagter Suchender, ist die Karriere vorbei.

Der Schweizer Moto GP2 Motorradrennfahrer Thomas Luethi, vom Dynavolt Intact GP-Team, anlaesslich der offiziellen Moto GP 2 Testtage, auf der Rennstrecke in Jerez, Spanien, am Donnerstag 20. Februar 2 ...
Tom Lüthi ist sichtlich konsterniert.Bild: KEYSTONE

Sind es technische Probleme? Ein hochheikles Thema. Dabei dürfte es gar kein Thema sein. Geld und Material spielen in diesem Fall eigentlich keine Rolle. Sein Team arbeitet so eng mit dem bestmöglichen Materiallieferanten («Kalex») zusammen, dass schon fast von einem Werksteam gesprochen werden kann. Im Rennsport im Allgemeinen und in einer so ausgeglichenen Klasse wie der Moto2-WM (gleiche Motoren und Reifen für alle, nur unterschiedliche Fahrwerke) ist der Erfolg das Resultat von Detailarbeit. An vielen Stellschrauben muss gedreht werden. Eine einfache Lösung, einen Befreiungsschlag durch eine einzige Massnahme gibt es nicht.

Schon letzte Saison sind hinter vorgehaltener Hand leise Zweifel an der Tauglichkeit seines neuen Cheftechnikers Michael Thier geäussert worden. Damit keine Unruhe aufkam, beeilte sich Daniel Epp schon Mitte der letzten Saison eifrig zu versichern, es werde keine Veränderungen beim Personal geben. Michael Thier ist ein überforderter Neuling in einer Position, in der Erfahrung eine der wichtigsten Währungen ist. Keine Überraschung also, dass Tom Lüthi seine bisher besten Jahre in der Moto2-Klasse (WM-Zweiter 2016 und 2017) mit Gilles Bigot hatte. Einem der erfahrensten Techniker und seit mehr als 30 Jahren im GP-Business. Die Beziehung mit dem 63-jährigen Franzosen zerbrach am missglückten MotoGP-Abenteuer (keine WM-Punkte in der Saison 2018). Die Lösung zum Rätsel des Bruchpiloten Tom Lüthi dürfte im technischen Bereich zu finden sein.

Der Druck auf Lüthi ist enorm

In einer Woche wird in Jerez ein weiteres Rennen ausgefahren. Erneut unter Ausschluss der Zuschauer («Geisterrennen») und ohne Gäste, Medienschaffende (inkl. TV-Kommentatoren). Um die Ansteckungsgefahr möglichst gering zu halten, müssen in Jerez bei hochsommerlicher Hitze alle im Fahrerlager und Hotel in selbstverordneter Quarantäne ausharren, um die Ansteckungsgefahr so gering wie möglich zu halten. Da bleibt viel Zeit zum Nachdenken, zu fernmündlichen Analysen und auch sonst zum Telefonieren. Was bei ausbleibendem Erfolg dem Frieden in einem Team nicht zuträglich ist.

Der Schweizer Moto GP2 Motorradrennfahrer Thomas Luethi, vom Dynavolt Intact GP-Team, anlaesslich der offiziellen Moto GP 2 Testtage, auf der Rennstrecke in Jerez, Spanien, am Freitag 21. Februar 2020 ...
Tom Lüthi braucht jetzt dringend Resultate.Bild: KEYSTONE

Gelingt Tom Lüthi keine Steigerung, dann könnte es bis zum Eklat im Team nicht mehr lange dauern. Der Emmentaler steckt in der heikelsten Phase seine Karriere. Sein Vertrag mit dem Team läuft Ende Saison aus und er möchte eigentlich um zwei Jahre verlängern. Sein Manager Daniel Epp versichert: «Mündlich haben wir uns für eine Verlängerung um ein weiteres Jahr geeinigt. Im September wird der Vertrag schriftlich fixiert.»

Aber Resultate wie in den bisherigen zwei Rennen können zu einem raschen Meinungsumschwung führen. Es ist Tom Lüthis schwächster Start in eine Moto2-WM und der dramatischste Rückschlag seiner Karriere. Möglich, dass er für die Fortsetzung seiner Laufbahn noch einmal das Team wechseln muss. Eigentlich wäre es sehr reizvoll, wenn Dominique Aegerter für ein Rennen die Maschine von Tom Lüthi übernehmen würde: Aegerter ist ja der Ersatzpilot in Lüthis Team und hat soeben in Jerez im ersten Saison-Rennen der elektrischen Bikes (MotoE-Weltcup) einen Podestplatz (3.) herausgefahren.

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Alle Schweizer Töff-GP-Sieger
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Tom Lüthi: Zwischen 2002 und 2021 17 Siege, 64 Podestplätze und 1 WM-Titel (125 ccm). (Stand: 27.11.2023).
quelle: semedia / luciano bianchetto/semedia
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7 Kommentare
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N. Y. P.
19.07.2020 18:16registriert August 2018
Der 33-jährige Berner hält gleich mehrere Rekorde: am meisten Rennen hintereinander in den Punkten (119), am meisten Podestplätze (53), mit 1759 WM-Punkten die Führung in der «ewigen Rangliste» der zweitwichtigsten Töff-WM.

Mit Verlaub, denkt mal alle scharf nach, wieso Tom Lüthi sämtliche Rekorde in der Moto2 hält.
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