Der Sender, der das Fernsehen verändert hat, ist nicht nur ein Amerikaner. Nein, der ist auch ein Europäer. Zuhause in Budapest, in einem schlichten, grauen Bürokomplex. HBO Europe also. Der Schwestersender des amerikanischen Bezahlsenders HBO, dem Unternehmen, das sich Ende der 90er-Jahre getraute, neben dem üblichen TV-Futter auf die unnachgiebige Dauerpräsenz anspruchsvoller Serien zu setzen.
«The Sopranos», «Six Feet Under», «The Wire» sind die grossen, wichtigen, gesellschaftskritischen HBO-Erzählungen unserer Zeit. Daneben gibt es aber auch historischen Bombast, von «Rome» bis zum Prohibitions-Epos «Boardwalk Empire», und natürlich Fantasy-Formate von «True Blood» bis zu «Game of Thrones». Und immer wieder wilde Ausreisser wie «Girls», dieser erfrischende Punkrocker unter den Serien. Das ist HBO, wie wir es kennen.
HBO Europe dagegen ist im deutschsprachigen Europa weitgehend unbekannt, dabei nahm es schon 1991 seinen Betrieb in Budapest auf. Es war damals der Aufbruch in ein neues Europa, an dem der Sender durchaus eigennützig teilhaben wollte. Es war aber auch das Wissen, dass in jenen Ländern, in Ungarn, Polen und besonders Tschechien, die handwerklich weltweit am besten ausgebildeten Filmschaffenden zu Hause waren. All jene zum Beispiel, deren Märchenfilme und Jugendserien in den 70er- und 80er-Jahren im deutschen Fernsehen so beliebt waren.
Jetzt ist HBO Europe dabei, in den Westen ausgewanderte Helden heimzuholen. Und mit ihrer Hilfe endlich auch den Rest Europas von Osten aus zu erobern. Die 65-jährige polnische Regisseurin Agnieszka Holland ist dabei ihre Gallionsfigur. Wie eine «Homecoming Queen» habe sie sich gefühlt, als sie 2012 in Prag für HBO Europe den Dreiteiler «Burning Bush» drehte.
Holland hatte einst in Prag an der Filmhochschule studiert, sie stammte aus einer Familie von Widerspenstigen, ihr Vater, ein systemkritischer Journalist, hatte sich angeblich das Leben genommen, die Familie geht noch immer von Mord aus. Sie selbst sass im Gefängnis, wanderte aus, lebt heute in Amerika und Paris, gilt als Heroin des Arthouse-Kinos, drehte mit «Bittere Ernte», «Hitlerjunge Salomon» und «In Darkness» drei oscarnominierte Filme – und wandte sich plötzlich wie so viele von Hollywood enttäuschte Regisseure dem Fernsehen zu. HBO wollte, dass die Fachfrau für Sozialrealismus für sie dreht. Zuerst einige Folgen von «The Wire», dem Drogenkriminalitäts-Drama aus Baltimore, danach «Treme», die Serie über das Leben in New Orleans in den Trümmern von Katrina.
Und dann wurde sie mit «Burning Bush» belohnt. Ihrem eigenen Projekt. Über die Selbstverbrennung des Kunststudenten Jan Palach am 16. Januar 1969 mitten auf dem Wenzelsplatz in Prag. Da brannte ein junger Mensch aus Protest gegen die russische Besatzung der Tschechoslowakei, es folgten ihm ein paar ebenso radikale Nachahmer. Die Behörden drangsalierten Palachs Familie, die Studentenschaft war in Aufruhr, die Öffentlichkeit schockiert, und am Tag nach Palachs Tod, am 20. Januar, verwandelte sich Prag in einen einzigen Trauerzug.
«Ich war sehr jung damals», sagt Agnieszka Holland, «es war ein wichtiger Teil meiner Biografie.» In «Burning Bush» zeigt sie nun, wie sich aus einem impulsiven Akt des Protests ein irres Geflecht aus Heiligsprechung, aber auch aus zähen politischen Intrigen, Lügen und Falschbeschuldigungen entwickelt. Das ist grosses Historienkino, natürlich von einer erlesenen Retro-Ästhetik, und unverschämt komplex.
Agnieszka Holland gönnt sich das bei HBO. «Ich liebe die epische Dimension von Serien», sagt sie an einem Nachmittag in Paris, vier Stockwerke unter dem Boden, im Forum des images, das alljährlich die Serienphilen-Tagung «Séries Mania» veranstaltet. «Ich liebe es, dass man eine Wirkung aufbauen kann. Und eine Beziehung zum Publikum. Serien sind interaktiv, Filme sind da zufälliger. Die Menschen sitzen für zwei Stunden im Kino, danach beschäftigen sie sich nicht mehr damit.»
Serien seien die Romane unserer Zeit, heisst es. «Wissen Sie, viele der grossen Romane des 19. Jahrhunderts entstanden als Reflex auf die Industrialisierung. Die Leute brauchten eine Heimat, die weniger schnelllebig war als ihre Arbeitswelt, einen Fixpunkt. Mit den Serien ist es genau gleich. Der Serien-Boom ist ein Kind der digitalen Revolution, ein Anker.»
Ihre Position bei HBO betrachtet sie mit dem Selbstbewusstsein einer wahren Meisterin: «Die Philosophie von HBO ist die: Das Publikum muss die Gewissheit haben, dass es bei HBO einerseits das T-Shirt aus dem Supermarkt finden kann, aber auch das ganz Besondere, die Haute Couture. Und ich bin Haute Couture. Sowas wie Chanel.» Damit ist HBO Amerika seit 15 Jahren erfolgreich. HBO hat das Fernsehen verändert. Viele sind ihm gefolgt: Showtime («The Tudors», «Dexter») und AMC («Mad Men», «Breaking Bad») zum Beispiel, zuletzt Netflix mit seinem makellosen «House of Cards».
Aber wenn all diese Sender mit ihrem Mut zum episch-komplexen Atem die TV-Landschaft so radikal verändern, wenn sich massenhaft Menschen zur Seriensucht bekennen wie zu einem Kult, gibt es da nicht vielleicht doch auch langsam eine Rückkoppelung vom Fernsehen aufs Kino? Konkret auf Hollywood? Weg vom Kassenkapitalismus hin zum inneren Auftrag, wichtige Geschichten zu erzählen? «Doch», sagt Agnieszka Holland und ist hörbar stolz, «Filme wie ‹Zero Dark Thirty› von Kathryn Bigelow oder auch ‹Argo› wären vor wenigen Jahren in Hollywood gar nicht denkbar gewesen, und jetzt erreichen sie sogar ein Massenpublikum.» Und aktuelles Erzählkino wie «American Hustle» und Martin Scorseses «Wolf of Wall Street» auch nicht.
Mit Scorsese hat die Coco Chanel von HBO noch ein Hühnchen zu rupfen: «Es ist gut, fürs Fernsehen relativ schnell zu arbeiten, nicht mit einem allzu grossen Budget. Der Mangel an Adel, der TV-Produktionen auszeichnet, macht sie zugleich frei. Ein zu grosses Budget erdrückt die Produktion. Martin Scorsese hat definitiv zuviel Geld gekriegt.»
Arte, der kleine, mutige Sender, der immer mehr internationale Serien für sich entdeckt, lang bevor die Öffentlich-Rechtlichen überhaupt davon gehört haben, strahlt nun «Burning Bush» zum ersten Mal im deutschsprachigen Raum aus. Es ist ein Experiment, aber scheitern dürfte es kaum, dazu sind die Namen HBO und Agnieszka Holland viel zu gross.
Agnieszka Holland hat übrigens gerade in Amerika für NBC zwei Folgen eines Vierteilers abgedreht. Der Titel: «Rosemary's Baby», mit Zoe Seldana («Avatar») als Rosemary. Nach dem Film von Agnieszka Hollands Landsmann Roman Polanski natürlich. Der Westen wird von Osten her erobert. In Serie.