Ein paar Scherben liegen auf dem Waldboden, ein Plastikzahnstocher, eine leere Spritzenverpackung: Zeugen davon, dass auf diesem einsamen Fleck am Dorfrand von Uhwiesen bis vor kurzem ein Mensch gelebt hat: Franz W. (51). Am Montag machte er sich von hier aus mit seiner Kettensäge auf den Weg in die Filiale seiner Krankenkasse in der Schaffhauser Altstadt, exakt 20 Postautominuten entfernt, und griff mehrere Menschen brutal an.
Am Dienstagabend konnte ihn die Polizei in Thalwil verhaften. Mit seinem Auto ist er bestimmt nicht in den rund 60 Kilometer entfernten Ort am Zürichsee gefahren.
Den weissen VW Caddy, in dem er in den vergangenen vier Wochen lebte, hat die Polizei bereits abtransportiert. Der Parkplatz am Waldrand steht leer. Darum herum rauschen die Buchen im gewittrigen Wind, kein Mensch weit und breit.
Ein paar hundert Meter weiter Richtung Dorf hängt ein Schild an einem Gartenzaun: «Objekte erstellt mit Kettensäge», das letzte Wort ist unterstrichen. Ein schlechter Scherz? Gar nicht, sagt Ruedi Karrer und bittet in den Garten. Überall stehen Holzfiguren, eigenhändig geschnitzt mit Kettensägen: Karrers Hobby. «Das Schild hängt schon lange da», sagt der Uhwiesner Gemeindepräsident. «Die Leute haben natürlich schon etwas verunsichert reagiert, als plötzlich die Meldung herumging, ein kahler Mann, der in Uhwiesen am Waldrand lebe, sei in Schaffhausen mit einer Kettensäge auf Menschen losgegangen.» Er könne das verstehen, sagt Ruedi Karrer: Die Gemeinsamkeiten zwischen ihm und dem Täter seien tatsächlich auffällig.
Karrer hat den Täter mehrmals gesehen und mit ihm gesprochen. «Mir schien das nicht komisch, dass er mit einer Kettensäge im Wald hauste.» Ab und zu müsse man ja ein Tannli fällen und Brennholz sammeln, wenn man in der Natur draussen hause. Die Polizei habe ihm versichert, dass man vom Mann am Waldrand wisse und ihn als harmlos betrachte. Eine grobe Fehleinschätzung. Und trotzdem hat Karrer eigentlich keine Angst. «Meine Frau ist aber etwas vorsichtiger. Sie hat mir untersagt, im Wald joggen zu gehen.» Der ehemalige Profi-Orientierungsläufer zuckt mit den Schultern. «Jäno.»
Im Dorf unten sind die Leute weniger gelassen. «Alle sprechen nur noch vom Mann mit der Kettensäge», erzählt Nataša Kocic. Die 20-Jährige arbeitet als Verkäuferin im Volg. «Ich bin am Mittag jeweils alleine hier. Dann ist mir schon ziemlich ‹gschmuuch›.» Gesehen hat sie den Kettensägen-Mann im Volg aber nie. «Jetzt ist er zwar wie vom Erdboden verschluckt. Viele haben aber immer noch Angst, alleine rauszugehen», sagt Kocic und rückt die Trauben zurecht.
Diese Angst ist nicht unbegründet, glaubt der forensische Psychiater Josef Sachs. «Es ist nicht auszuschliessen, dass der Mann für die Allgemeinheit gefährlich ist. Möglicherweise hängt er der verschwörerischen Vorstellung an, alle seien gegen ihn», sagt Sachs. Dass sich W. in die Einsamkeit des Waldes zurückgezogen habe, spreche für diese Theorie. «Es kann allerdings auch sein, dass er immer schon gerne für sich alleine war», sagt Sachs. «Manche sind ein Leben lang wie ein Alpöhi unterwegs, andere leben normal und ziehen sich dann urplötzlich zurück.» Dass er im Wald mit niemandem kommunizieren konnte, habe bei der Planung der Tat sicher eine Rolle gespielt.
Aussergewöhnlich findet Sachs das konkrete Vorgehen des Täters. «Einerseits wollte er gezielt die Mitarbeiter der CSS angreifen, andererseits aber ging er sehr undifferenziert vor. Die wilde Anwendung von Gewalt mit einer Kettensäge wirkt unüberlegt für jemanden, der ein ganz konkretes Ziel attackieren will», erklärt Sachs.
Das konkrete Ziel war die CSS-Filiale in der Schaffhauser Vorstadt. Vor dem Gebäude stehen zwei bewaffnete Polizisten. Sie kontrollieren jeden, der das Haus betreten will. Ansonsten aber ist am Tag nach der schrecklichen Tat der normale Trott in die Gassen zurückgekehrt. Ein Strassenmusiker singt Oasis’ «Wonderwall», Touristen schlendern vorbei. Und im Kebab-Bistro gegenüber der CSS-Filiale lacht der Chef, als der Reporter ihn fragt, ob er Angst habe. «Bruder, ich bin Türke, sowas macht mir doch keine Angst.» Zudem habe der Typ ja ein Problem mit seiner Krankenkasse gehabt, nicht mit seinem Kebab-Händler. «Ist also alles gut.»
Ausser diese unermüdlichen Journalisten. «Du bist sicher der dreissigste, der hier reinkommt», so der Mann, der seinen Namen nicht verraten will. «Morgen will ich wieder Ruhe, dann will ich euch nicht mehr hier sehen.»
Zurückhaltende Medien, das wünscht sich auch Jérôme Endrass. Er ist stellvertretender Leiter des Psychiatrisch-Psychologischen Dienstes im Zürcher Amt für Justizvollzug und sagt: «Die Gefahr von Nachahmungstätern ist hoch.» Deshalb sei es wichtig, dass möglichst wenig Infos über den Täter veröffentlicht würden. Die Medien sollten entsprechend zurückhaltend berichten. Verharmlosen dürfe man die Tat aber nicht, sagt Endrass. «Es ist offensichtlich, dass diese Person gefährlicher ist als der Durchschnittsbürger, obwohl man aus einer brutalen Tat nicht automatisch den Schluss ziehen darf, dass der Täter generell brutal ist.»
Davon zeugte auch die Warnung der Polizei, dass Franz W. allenfalls noch immer mit einer Kettensäge oder mit anderen Waffen unterwegs sei. Denn allen Beteuerungen des Gemeindepräsidenten von Uhwiesen zum Trotz war der Angreifer bei den Behörden einschlägig bekannt. Und sogar schon zwei Mal wegen Widerhandlung gegen das Waffengesetz verurteilt worden. Das erste Mal 2014, weil er im Kanton Bern mehrfach ohne Bewilligung eine Pistole getragen hatte. Das zweite Mal handelte sich Franz W. 2016 im Luzernischen ein Urteil ein, weil er ein Elektroschock-Gerät trug.