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Menschen­rech­te ja, aber …

Der Marsch auf Bern am 1. März 1969.
Der Marsch auf Bern am 1. März 1969.Bild: Schweizerisches Nationalmuseum / ASL

Menschen­rech­te ja, aber …

Die Schweiz will 1969 der Europäischen Menschenrechtskonvention beitreten. Allerdings, ohne die politische Gleichberechtigung von Mann und Frau zu garantieren. Den Schweizerinnen platzt endgültig der Kragen.
14.03.2021, 20:43
Regula Ludi / Schweizerisches Nationalmuseum
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Am 1. März 1969 herrscht frühlingshaftes Wetter in Bern. Tausende Frauen, und nicht wenige Männer, strömen auf den Bundesplatz. Jung und Alt sind vertreten. Nur die Zürcher Anwältin und Stimmrechtlerin Gertrud Heinzelmann fehlt. Sie liegt krank im Bett. Um drei Uhr nachmittags tritt Emilie Lieberherr ans Mikrofon. «Wir stehen hier nicht als Bittende, sondern als Fordernde», ruft sie in die Menge und verlangt «sofortige Schritte, damit in unserem Land auch die Frauen in den Genuss der Menschenrechte gelangen».

Kaum hat sie geschlossen, stimmen die Demonstrantinnen ein Pfeifkonzert an. Die Missklänge werden lauter. «Buhs und Pfuirufe» folgen, als durchsickert, dass kein Bundesrat da ist, um die Resolution der Frauen entgegenzunehmen.

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Der «Marsch nach Bern» bildet den Höhepunkt eines turbulenten Jahres im Kampf für die Demokratie. Dass Frauen ihrem Ärger lautstark Luft machen, sorgt für Aufsehen. Noch mehr überrascht der Anlass der Empörung: Die Wut der Demonstrantinnen richtet sich gegen den geplanten Beitritt der Schweiz zur Europäischen Menschenrechtskonvention. Doch weshalb ausgerechnet gegen die Menschenrechte?

Emilie Lieberherr forderte vor dem Bundeshaus sofortige Schritte.
Emilie Lieberherr forderte vor dem Bundeshaus sofortige Schritte.Bild: Schweizerisches Nationalmuseum / ASL

Menschen­rech­te als Rosinenpickerei

Der Grund dafür ist einfach, die Geschichte dahinter vertrackter. Dass Menschenrechte und politische Mitsprache zwingend zusammengehören, erscheint uns selbstverständlich. Das ist 1969 in der Schweiz nicht der Fall. Der Bundesrat will der Europäischen Menschenrechtskonvention beitreten, ohne die politische Gleichberechtigung von Männern und Frauen zu garantieren.

Mit dieser Ankündigung vollzieht der Bundesrat eine Kehrtwende. Bis vor kurzem hat die Regierung nämlich behauptet, die politische Rechtlosigkeit der Frauen lasse diesen Schritt nicht zu. Das Defizit sei zu schwerwiegend. Das war ganz im Sinn der Feministinnen. Ohne politische Rechte gäbe es keine Freiheit, schreibt Gertrud Heinzelmann schon 1960. Ergo lebten die Schweizerinnen in einem «Untertanenverhältnis», einem System, das auf «Vorrechten der Geburt» beruht.

Doch plötzlich sind solche Einwände unerheblich. Denn der Bundesrat hat es eilig. Die Schweiz läuft Gefahr, den Anschluss an die internationale Entwicklung zu verpassen. Das ist schlecht fürs Image und schadet der Wirtschaft. So mutiert das fehlende Frauenstimmrecht zum blossen «Schönheitsfehler» der schweizerischen Rechtsordnung, wie es Mathias Eggenberger, Nationalrat der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz, ausdrückt. Die «verfassungsrechtliche Flurbereinigung» könne man getrost auf die Zeit nach dem Beitritt verschieben, empfiehlt er. Diesen Vorschlag nimmt der Bundesrat mit Handkuss an. Er erklärt Ende 1968: Unterzeichnung mit Vorbehalten, Rechtsanpassung später.

Da platzt den Frauen der Kragen. Ein Beitritt mit Vorbehalten käme einer Pervertierung der Menschenrechtsidee gleich. Falls «die Menschenrechtskonvention den schweizerischen Männerbund samt Vorbehalten aufnehmen sollte, dann wird die lange Bank, auf der unsere Anliegen schon so lange ruhen, noch viel länger», frotzelt Bethli im Nebelspalter.

Über Brasilien in die Schweiz: Licht am Ende des Tunnels

Gertrud Heinzelmann teilt diese Bedenken. Doch sie bangt auch um eine Strategie, die sie als Antwort auf die Ablehnung des Frauenstimmrechts ausgeheckt hat. Die Niederlage vom 1. Februar 1959 hat ihr zugesetzt. So sehr, dass sie nach Brasilien auswandern will. Zwar schafft sie es nicht, in Rio de Janeiro Fuss zu fassen, sie macht dort aber die Bekanntschaft von Bertha Lutz, die sich bei der Gründung der Vereinten Nationen 1945 dafür einsetzte, dass die Charta den Grundsatz der gleichen Rechte für Mann und Frau enthält. Lutz ist überzeugt, dass die Menschenrechte eine Chance für die Emanzipation der Frauen bieten.

Diese Begegnung öffnet Gertrud Heinzelmann die Augen. Das Völkerrecht verspricht eine alternative Route zu den vielfach erprobten, doch stets gescheiterten Methoden im Kampf für das Frauenstimmrecht in der Schweiz: Volksabstimmung und Neuinterpretation der Verfassung. Durch die Mitgliedschaft in internationalen Organisationen wie der UNESCO, so Heinzelmann, hat sich die Schweiz zur Gleichbehandlung der Geschlechter bekannt. Die Menschenrechte verlangten «im Hinblick auf die Würde der Frauen, denen die demokratischen Rechte um ihrer selbst willen zustehen», die Einführung des Frauenstimmrechts, und zwar ohne «Männerabstimmung».

Gertrud Heinzelmann an der Präsentation der ersten Nationalratskandidatinnen, 1971.
Gertrud Heinzelmann an der Präsentation der ersten Nationalratskandidatinnen, 1971.Bild: Keystone / STR

Diesem Argument verschafft der Beitritt der Schweiz zum Europarat 1963 zusätzliche Aktualität. Nun erhalte die politische Rechtlosigkeit der Schweizerinnen eine neue, internationale Qualität, stellt Heinzelmann fest. Sie werde zur Missachtung einer «Norm des positiven Rechts», zu dessen Schutz der Europarat geschaffen wurde.

Heinzelmann kann die Kolleginnen im Stimmrechtsverband für ihre neue Strategie gewinnen. Fortan bezeichnen sie die politische Rechtlosigkeit der Frauen in Eingaben und Resolutionen regelmässig als «schwerwiegende Verletzung» der Menschenrechte. Damit appellieren sie an fundamentale Werte und höherrangige Prinzipien. Zugleich bereiten sie den Boden für die geschlossene Ablehnung eines Beitritts zur Europäischen Menschenrechtskonvention mit Vorbehalten. Über Parteigrenzen und weltanschauliche Differenzen hinweg einigen sich die Schweizer Frauenorganisationen 1969 auf die gemeinsame Formel: keine Menschenrechte ohne Frauenstimmrecht.

Bundesrat Willy Spühler bei seiner Ansprache am 1. Februar 1968.
Bundesrat Willy Spühler bei seiner Ansprache am 1. Februar 1968.Bild: Schweizerisches Nationalmuseum / ASL

Ständerat versenkt Beitrittspläne

Mit so viel Widerstand hat Bundesrat Willy Spühler der Sozialdemokratischen Partei nicht gerechnet. Als er am 1. Februar 1968 das Menschenrechtsjahr der Vereinten Nationen vor dem Zürcher Frauenstimmrechtsverein eröffnet, lässt er durchblicken, dass der Bundesrat einen neuen Kurs in der Menschenrechtspolitik einzuschlagen gedenke. Doch Spühler will keine falschen Erwartungen wecken. Er warnt: «Die Menschenrechtskonvention ist leider kein Zugpferd für das Frauenstimmrecht.»

Sein Kalkül geht nicht auf. Im Herbst 1969 versenkt der Ständerat die Beitrittspläne. Wohl kaum aus Solidarität mit den Frauen. Eher kommt dem einen oder anderen Parlamentarier die Opposition der Frauen gelegen, um andere Motive zu kaschieren. Doch dann geht alles ganz rasch. Ende 1969 präsentiert der Bundesrat eine Vorlage zum Frauenstimmrecht. Am 7. Februar 1971 genehmigen die Schweizer Männer die politische Gleichberechtigung auf Bundesebene. 1974 kann die Schweiz der Europäischen Menschenrechtskonvention beitreten, wobei weitere Vorbehalte erst in den folgenden Jahren bereinigt werden.

Bild zur Ausstellung Frauen.Rechte Landesmuseum
Bild: Nationalmuseum
Frauen.Rechte
05.03.2021 – 18.07.2021
Landesmuseum Zürich
Lange blieben die Schweizerinnen von zivilen und politischen Rechten ausgeschlossen. Ihr Weg zur Einführung des Frauenstimmrechts 1971 und des Gleichstellungsartikels 1981 war steinig und heiss umstritten. Seit die Menschen- und Bürgerrechte von 1789 die «freien Männer» für politisch mündig erklärt haben, kämpfen Frauen für Gleichberechtigung. Und noch heute wird diese von Frauen und Männern verhandelt. 50 Jahre nach Einführung des Frauenstimmrechts in der Schweiz beleuchtet die Ausstellung im Landesmuseum das seit über 200 Jahren an- und abflauende Ringen um Frauenrechte in der Schweiz. Neben bedeutsamen Leihgaben aus Schweizer Institutionen präsentiert sie herausragende Zeugnisse aus internationalen Sammlungen.
>>> Weitere historische Artikel auf: blog.nationalmuseum.ch
watson übernimmt in loser Folge ausgesuchte Perlen aus dem Blog des Nationalmuseums. Der Beitrag «Menschen­rech­te ja, aber…» erschien am 1. März.
blog.nationalmuseum.ch/2021/03/frauen-und-das-menschenrecht

Hunderttausende Frauen streikten

Video: srf/Roberto Krone
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Frauenstreik 1991
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Frauenstreik 1991
Plakat zum landesweiten Frauenstreik vom 14. Juni 1991 mit dem Motto: «Wenn Frau will, steht alles still». Das Sujet stammt von Grafikerin Agnes Weber. (bild: schweizerisches nationalmuseum / asl)
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Streikende Parlamentarierinnen Frauenstreik 2019
Video: srf
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