Das Wetter hilft, für den Moment. Die Bise, die seit Samstagabend durchs Land pfeift, animiert trotz strahlendem Sonnenschein nicht dazu, sich im Freien zu verlustieren. Die Menschen bleiben eher zu Hause als beim Frühlingswetter von letzter Woche. Das könnte den Bund (vorerst) davon abhalten, eine totale Ausgangssperre zu verhängen.
Trotzdem oder gerade deshalb äussern immer mehr Menschen ihren Unmut über den Stillstand des öffentlichen Lebens in der Schweiz. Sie fürchten um die Wirtschaft und die psychische Verfassung vieler in ihren vier Wänden «eingesperrter» Leute. Braucht es wirklich einen «Lockdown» in der Hoffnung, das Coronavirus bändigen zu können?
Wir müssen die Kranken und Gefährdeten isolieren. Alle andern sollen zurück an die Arbeit oder in die Schule. Es ist komplett unverhältnismässig, die Wirtschaft zu ruinieren. Der Bundesrat handelt fahrlässig und falsch.
— Roger Köppel (@KoeppelRoger) March 16, 2020
Die Vorreiterrolle spielte SVP-Nationalrat Roger Köppel. Er forderte auf Twitter und in der «Weltwoche», vor allem «die Minderheit der speziell Gefährdeten» unter «strengste Schutzquarantäne» zu stellen: «Anstatt gezielt zu schützen und abzuschirmen, auferlegt der Bundesrat der ganzen Schweiz gigantische Opfer mit unabsehbaren Langzeitfolgen.»
Köppel hat seine Tonalität zuletzt heruntergefahren, andere aber hauen in die gleiche Kerbe. Ein Kommentar in der «Handelszeitung» postulierte, dass das Virus «für breite Massen ungefährlich» sei und man weiterarbeiten könne. Notwendig wären «lediglich Abschirmungen für über 60-Jährige und Risikopersonen mit ganz bestimmten Vorerkrankungen».
Der deutsche Ökonom und «Wirtschaftsweise» Lars Feld äusserte in der «Welt am Sonntag» grosse Zweifel, «dass wir den Stillstand länger als drei Monate durchhalten». Irgendwann werde man «zu einer personalisierten Isolierung übergehen müssen», sagte Feld. In Quarantäne blieben nur noch jene, die infiziert seien oder einer Risikogruppe angehörten.
Selbst in der Fachwelt gibt es entsprechende Abwägungen. Pietro Vernazza, Chefarzt der Infektiologie am Kantonsspital St. Gallen, schrieb letzte Woche, es wäre «mindestens zu überlegen, ob man Isolationsmassnahmen vor allem auf gefährdeten Personen beschränkt». Er fordere nicht das Ende der Massnahmen: «Aber lasst uns darüber nachdenken. Jetzt.»
In einem Nachtrag vom Montag bedankte sich Vernazza «bei den über 100 begeisterten Zuschriften». Nur vier Voten seien kritisch gewesen. Das zeigt: Solche Überlegungen treffen in der Bevölkerung einen Nerv. Die Idee ist auch zu verlockend: Isolieren wir die Alten und Kranken, dann bekommen wir «Gesunden» unser normales Leben zurück.
Das Problem ist, dass sie nicht zu Ende gedacht ist, aus zwei Gründen:
Die meisten Covid-19-Todesfälle betreffen ältere Menschen, die häufig bereits krank sind und ein geschwächtes Immunsystem haben. Das zeigen die Erfahrungen aus China und Italien. Das bedeutet jedoch nicht, dass junge und gesunde Menschen nicht erkranken können. Es werden im Gegenteil immer mehr Fälle in dieser Altersgruppe registriert.
Sie verlaufen keineswegs harmlos, wie das Beispiel der 39-jährigen Britin Tara Jane Langston zeigt. Es fühle sich an, als ob man Glas in der Lunge habe, beschrieb sie ihre Erfahrungen mit der Krankheit. Ähnliches berichtet die 49-jährige deutsche FDP-Politikerin Karoline Preisler, die ihre Erfahrungen in einem #coronatagebuch dokumentiert hat.
Sie hatte sich bei ihrem Mann – einem Bundestagsabgeordneten – infiziert, der das Virus beim Skifahren in Österreich «aufgelesen» hatte. Während er symptomfrei blieb, war ihre Erfahrung traumatisch: «Stellen Sie sich vor, Sie ertrinken. So ist das Gefühl. Als ob man Luft holen will, aber nicht kann. Und je mehr Sie es versuchen, desto schlimmer wird es», sagte sie der «Welt».
Preisler ist inzwischen wieder zu Hause. Tatsächlich haben jüngere Menschen eine hohe Überlebenschance. Aber auch sie belegen Spitalbetten. Lässt man die Leute unkontrolliert auf das Coronavirus los, drohen ebenfalls eine Überlastung der Intensivstationen und des Pflegepersonals sowie Ausfälle auf dem Arbeitsmarkt.
Die Frage lautet, wie gross die Risikogruppe ist, die man «wegsperren» will. Der Anteil der über 65-Jährigen an der Schweizer Bevölkerung beträgt rund 20 Prozent, was 1,7 Millionen Menschen entspricht. Hinzu kommt eine unbekannte Anzahl von Jüngeren mit Vorerkrankungen. Wie will man alle diese Leute vom Rest der Bevölkerung isolieren?
Selbst wenn man die «gesunden» Alten ausnimmt, bleibt eine beträchtliche Zahl gefährdeter Menschen. Sie müssten im Extremfall abgeschirmt werden, bis ein Medikament oder Impfstoff vorliegt, also womöglich ein Jahr oder mehr. Das schlägt auf die Psyche, wenn gleichzeitig die Mehrheit der Bevölkerung das Leben geniessen darf.
Fachleute fordern eine noch radikalere Stilllegung des Landes. Sie dürften zunehmend Mühe haben, sich Gehör zu verschaffen. Die Wirtschaft klagt schon jetzt über die Folgen eines langen Shutdowns. Manche Restaurants und Läden werden nicht mehr öffnen und KMU trotz «Bundeskredit» Konkurs gehen, weil die Aufträge fehlen.
Auch in der Bevölkerung wird der Stresslevel zunehmen. Einige werden sich an den Shutdown und das Verbot von Zusammenkünften in grösseren Gruppen gewöhnen, viele nicht. Es dürfte vermehrt zu Fällen von Gewalt gegen sich selbst und andere kommen. Sie werden die Rufe nach einer Rückkehr zur Normalität verstärken.
Je länger der Ausnahmezustand andauert und ein Durchbruch in der Forschung ausbleibt, umso stärker wird der Druck auf die Behörden in der Schweiz und anderen Ländern wachsen, nicht nur die Infizierten «wegzusperren», sondern alle Risikogruppen. So schwierig das auch sein mag.
Dass hoher Blutdruck eine kritische Vorerkrankung ist, hätte ich nicht gedacht/gewusst, und schwupp, schon gehöre ich in eine Risikogruppe und wurde vom Arbeitgeber ins HomeOffice geschickt.
Da wird es noch einige geben welche gar nicht wissen dass sie besonders gefährdet sind.