Die Schweiz versteht sich als Sonderfall. Wir sind anders als die Anderen. Für viele heisst das: Wir sind besser. Im Gegensatz zu den Anderen haben wir alles im Griff. Das gilt auch für die zweite Corona-Welle. Okay, im Oktober gingen die Fallzahlen ab wie eine Rakete. In Rekordzeit wurden wir im globalen Vergleich von Musterschülern zu Problemkindern.
>> Coronavirus: Alle News im Liveticker
Dennoch hat der Bundesrat nicht den Kopf verloren. Während praktisch alle Länder um uns in einen Teil-Lockdown gingen, hat die Schweiz zumindest auf nationaler Ebene darauf verzichtet. Wir haben mehr oder weniger das schwedische Modell kopiert: Möglichst viel Gesundheitsschutz bei möglichst wenig Schaden für die Wirtschaft.
Schweiz ohne Lockdown - Das Corona-Wunder von Bern? https://t.co/v8mvedc474
— BILD (@BILD) November 30, 2020
Zu Beginn hat es funktioniert. Die Infektionen sanken deutlich, während sie bei den Nachbarn im Lockdown kaum vom Fleck kamen. «Das Corona-Wunder von Bern?», fragte sich das deutsche Boulevardblatt «Bild» erstaunt. Der Basler Kantonsarzt Thomas Steffen lobte am letzten Freitag den «Schweizer Sonderweg» ausdrücklich.
«Der Winter wird nicht einfach», mahnte Steffen zwar. Dennoch sei der Rückgang an Neuinfektionen erfreulich. Es war eine Momentaufnahme mit beschränkter Haltbarkeit. Denn in den letzten Tagen haben sich die Fallzahlen auf einem im internationalen Vergleich weiterhin sehr hohen Niveau eingependelt. Und vielleicht geht es bald wieder nach oben.
Der Reproduktionswert R steigt laut Berechnungen der ETH Zürich wieder in Richtung 1. Nur bei einem Wert von 0,8 und tiefer ist eine nachhaltige Senkung möglich. Ohnehin war der bewunderte Rückgang der Ansteckungen jenen Regionen zu verdanken, die deutlich härtere Massnahmen beschlossen als die Vorgaben des Bundesrats, also der Westhälfte des Landes.
Immerhin wurde das Hauptziel bislang erreicht: Die befürchtete Katastrophe in den Spitälern ist ausgeblieben. Aber die Auslastung der Intensivstationen bleibt hoch. Man fragt sich, was das mit dem Spitalpersonal macht, wenn es den ganzen Winter hindurch so weiter geht. Und bei den Todesfällen ist die Schweiz auf eine gar nicht bewundernswerte Art «Spitze».
Aber klappt es wenigstens mit dem zweiten Ziel? Kommt die Wirtschaft gut durch die Krise? Hier sind die Indikatoren nicht eindeutig. Das Konjunkturbarometer der ETH ist im Oktober und November gesunken. Eine Warnung kann Schweden sein, dessen Wirtschaft nicht besser durch den Frühling gekommen ist als jene der strengeren Nachbarn in Skandinavien.
Und es gibt beunruhigende Signale, dass die Schweiz sich mit ihrem Sonderweg einen Reputationsschaden einhandeln könnte:
Seit September ist klar, dass das Jahrestreffen des World Economic Forum (WEF) im Januar 2021 in Davos nicht stattfinden wird. Immerhin sollte es in der Schweiz bleiben. Geplant war eine Durchführung im Mai in der Innerschweiz, mit Schwerpunkt Bürgenstock. Deutlich kleiner als sonst, aber in physischer und nicht in virtueller Form.
Nun entschwindet auch diese Hoffnung, wegen den hohen Coronazahlen in der Schweiz. Die Situation sei «schwierig», sagte WEF-Gründer Klaus Schwab im Interview mit der «Schweiz am Wochenende». Ein Ausweichort ist schon gefunden: Singapur, einer der ostasiatischen Staaten, die die Krise ohne Lockdown in den Griff bekommen haben.
Offenbar weilt Schwab derzeit in Singapur. Es ist ein klares Indiz, dass der Umzug so gut wie besiegelt ist. Nun ist es nicht so, dass Schweiz-Fan Schwab freiwillig gehen will. Es sind die WEF-Teilnehmer, die keine Lust haben, in das «Seuchennest» Schweiz zu reisen. Dazu geführt haben kritische Berichte über unseren Sonderweg in verschiedenen Medien.
Der internationale Druck sei derzeit gross, das WEF nicht in der Schweiz durchzuführen, sagte Klaus Schwab gemäss «Blick» dem Luzerner SVP-Nationalrat Franz Grüter. Der neue Bundespräsident Guy Parmelin und Aussenminister Ignazio Cassis wurden laut CH Media informiert. Das WEF will am Montag definitiv entscheiden, wohl für Singapur.
Kaum ein Thema hat zuletzt für so viel Wirbel gesorgt wie der Start der Skisaison. Grosse Länder wie Deutschland und Frankreich wollen sie aus Angst vor einer neuen Ansteckungswelle über die Feiertage erst im Januar lancieren. Der französische Präsident Emmanuel Macron will seine Landsleute sogar am Skifahren im Ausland hindern.
Selbst Österreich, wo der Tourismus sehr wichtig ist, hat sich dem Druck gebeugt und macht die Grenzen für ausländische Skifahrer bis zum 10. Januar praktisch dicht. Die Schweiz will Pisten und Bahnen offen halten, aber Gesundheitsminister Alain Berset ist dermassen beunruhigt, dass er für Kapazitätsbeschränkungen in den Skigebieten plädiert.
Bürgerliche Politiker haben am Mittwoch dagegen protestiert und auch die Touristiker in den betroffenen Regionen sind empört. Sie verweisen auf ihre Schutzkonzepte. Auch Aprés-Ski soll es nicht wie gewohnt geben. Wenn jedoch eine illegale Party mit viel Alk und ohne Schutzkonzept zum Superspreader-Event werden sollte, ist das «Ischgl 2» perfekt.
Vielleicht ergeht es den Skigebieten in der Schweiz wie den Grossveranstaltungen. Über die Zulassung von Tausenden Zuschauern bei Fussball- und Eishockeyspielen ab 1. Oktober kann man im Rückblick nur noch den Kopf schütteln. Nach vier Wochen war es vorbei mit der Herrlichkeit, die mit viel Aufwand erstellten Schutzkonzepte waren für die Katz.
Das renommierte Magazin «Foreign Policy» stellte der bundesrätlichen Coronapolitik im Oktober ein vernichtendes Zeugnis aus: «Die Schweiz gewichtet Sparsamkeit höher als Menschenleben», heisst es in der von einem Schweizer verfassten Analyse. Selbst «Bild» schrieb, dass die Todeszahlen in der Schweiz «DEUTLICH höher» seien als in Deutschland.
Rund 100 Personen sind zuletzt pro Tag an Covid-19 gestorben. Insgesamt sind es mehr als 5000. Auf dem Papier nimmt die Schweiz einen unrühmlichen Spitzenplatz ein. Und in der Realität steckt hinter jedem dieser Todesfälle ein menschliches Schicksal. Kritiker der bundesrätlichen Corona-Politik erinnern daran mit Kerzen und Mahnwachen.
Der Mittelweg sei normalerweise eine Schweizer Tugend, sagte eine Aktivistin gegenüber dem ZDF-Auslandsjournal: «Aber mit dem Virus gibt es keinen Mittelweg.» Finanzminister Ueli Maurer sieht dennoch keinen Grund, etwas zu ändern. Die meisten Todesopfer seien über 80-Jährige mit Vorerkrankungen, sagte er in der «Samstagsrundschau» von Radio SRF.
Manche dieser Menschen mögen das Risiko in Kauf genommen haben. Aber nicht alle. Ein Beispiel ist der 90-jährige Ernst Luginbühl aus Spreitenbach, der am 31. Oktober verstarb. Seine Tochter hat wenig Verständnis für Verharmloser: «Mein Vater hätte noch Zeit gehabt. Er war noch lebensfroh. Er ist nicht mit dem Virus, sondern an ihm gestorben.»
Langsam dämmert es selbst bisherigen Verteidigern des Sonderwegs, dass sich die Schweiz im Corona-Winter aufs Glatteis begeben hat und dabei kräftig ins Schlittern kommt. Auch die Anhänger des schwedischen Modells sind inzwischen leise geworden. Und eine flächendeckende Impfung wird vor dem Frühjahr nicht zur Verfügung stehen.
«Es ist unredlich, nach den Erfahrungen vom Oktober immer noch so zu tun, als sei eine Wintersaison ohne gravierende Restriktionen und stark eingeschränkte Gastronomie möglich», kritisierte die NZZ am Donnerstag die «touristisch-populistischen Anwandlungen von SVP-, CVP- und FDP-Grössen», die sich für einen unlimitierten Skiplausch einsetzen.
FDP-Präsidentin Petra Gössi wiederum sieht wegen der Verlegung des WEF und der möglichen Begründung von Klaus Schwab Ungemach auf die Schweiz zukommen, wie sie den Tamedia-Zeitungen sagte: «Lässt er Zweifel daran aufkommen, dass die Schweiz sicher ist, wäre das eine Katastrophe für das internationale Bild unseres Landes.»
Der Basler Philosophieprofessor Andreas Brenner hat Recht, wenn er im watson-Interview die Politik aufruft, nicht nur auf die «Kleinstwissenschaft» Virologie zu hören. Die Folgen der Pandemie für die Gesellschaft und Wirtschaft sind einschneidend und Lockdowns eine harte Massnahme. Aber massenhafte Burnouts des Spitalpersonals sind auch keine Lösung.
Vielleicht liegen die 60 Ökonominnen und Ökonomen doch richtig, die in einem offenen Brief an den Bundesrat einen zweiten Lockdown fordern, «so schwer es fällt und so schmerzhaft es sein wird». Selbst die NZZ meint: «Lieber vorübergehend harte kantonale Eingriffe wie die Schliessung aller Restaurants als noch einmal ein Desaster wie im Oktober.»
Der Sonderfall Schweiz mag seine Vorzüge haben. Eine Kehrseite ist, dass wir gerne den Kopf in den Sand stecken, wenn er sich als Irrweg entpuppt. Das könnte uns auch jetzt blühen: Die Gefahr ist nicht gebannt, dass wir finstere Weihnachten erleben werden.
1. Der Bundesrat ist nicht homogen - da wollen nicht alle das Gleiche
2. Die Kantone sind im Lead und sperren sich tw. gegen schärfere Massnahmen
3. Massnahmen verhindern keine Ansteckungen, sondern Verhalten
Daraus folgt:
Dem BR die "Schuld" geben ist billig. Es sind halt alle (!) gefordert. Da aber Schwarmintelligenz eher nichts menschliches ist, Verantwortungsbewusstsein nicht mehr vorgelebt wird und Verzicht bitte immer Andere betreffen soll: darum stehen wir da, wo wir stehen.