Unter Bähnlern kursiert ein Scherz: Eigentlich seien die SBB längst ein Informatikkonzern mit Gleisanschluss. Mit einem jährlichen Gesamtvolumen von rund 500 Millionen Franken und über 1000 Fachangestellten gehören sie zu den grössten IT-Arbeitgebern der Schweiz. Ihre Marktmacht als Auftraggeber: erheblich. Jahr für Jahr vergeben die SBB Hunderte Informatikmandate an Drittfirmen.
Doch in der Branche bestehen erhebliche Zweifel, ob dabei die Unabhängigkeit der Bundesbahnen immer gewährleistet ist. Grund dafür ist die brisante Verbandelung eines SBB-Topmanagers: Zu den wichtigen Informatiklieferanten der SBB gehört die TI&M Holding AG. Der IT-Dienstleister und Digitalisierungsspezialist mit Hauptsitz in Zürich profitierte in den vergangenen Jahren von Aufträgen in der Höhe Dutzender Millionen. Im TI&M-Verwaltungsrat sitzt Markus Jordi - er ist hauptberuflich SBB-Personalchef und Mitglied der Konzernleitung. Schon seit 13 Jahren gehört der Jurist der obersten Bahn-Führungsriege an, als Dienstältester ist er eine einflussreiche Stimme im bundesnahen Betrieb.
Hinter vorgehaltener Hand äussern Mitbewerber aus dem IT-Sektor ihren Unmut über Jordis Doppelrolle. Weil sie selbst auf SBB-Aufträge angewiesen sind und negative Folgen befürchten, möchten sie anonym bleiben. Die Konstellation sei unsensibel, heisst es. Der Vertreter einer betroffenen Firma sagt:
Schon gar nicht entspreche eine solche Verquickung der heutigen Vorstellung guter Unternehmensführung.
Tatsächlich sind die Bundesbahnen bei Auftragsvergaben keine Firma wie jede andere. Sie werden vom Staat beherrscht, nehmen öffentliche Aufgaben wahr und sind umso mehr angehalten, haushälterisch mit ihrem Geld umzugehen. Weil sie dem Beschaffungsrecht unterliegen, müssen sie Aufträge ab 230'000 Franken öffentlich ausschreiben.
Zumindest auf der Zeitachse finden sich einige Auffälligkeiten: Im Herbst 2018 stiess Markus Jordi in den Verwaltungsrat von TI&M. Seither erhielt die Firma nach Ausschreibungen mehrere lukrative SBB-Aufträge, wie eine Auswertung der «Schweiz am Wochenende» zeigt.
So wurde TI&M im Oktober 2019 als einer der strategischen Partner für die Entwicklung von Individualsoftware ausgewählt. Die SBB liessen sich dies einiges kosten. Bekannt ist: Die Preisspanne der eingegangenen Angebote belief sich auf 40.5 bis 56 Millionen Franken. Kurz zuvor erhielt TI&M den Zuschlag, die SBB bei sogenannten Public-Cloud-Services zu unterstützen. Für diesen Auftrag gingen Angebote zwischen 17.1 Millionen und 27.5 Millionen Franken ein. Zudem ist TI&M auch an einem aktuellen Prestigeprojekt der SBB beteiligt: Bei der Entwicklung des Reiseassistenten «Smart Way», einer App, die 2020 an den Start ging.
Ist es angemessen, dass ein SBB-Topmanager für ein Unternehmen tätig ist, das wichtige Aufträge erhält? Müssten die Bundesbahnen nicht jeglichen Anschein eines Interessenkonflikts vermeiden? Und konnte sich Jordi mitunter sogar einen Wissensvorsprung sichern, wenn die Konzernleitung über Auftragsvergaben informiert wurde?
Auf Anfrage weisen die Verantwortlichen entsprechende Vorwürfe zurück. «Markus Jordis Mandat wurde beim Verwaltungsrat der SBB ordentlich beantragt, geprüft und bewilligt», lässt eine Sprecherin der Bundesbahnen ausrichten. Sie verweist auf die Massnahmen, die getroffen worden seien, um mögliche Interessenkonflikte zu verhindern: Jordi trete bei jeglichen Geschäften der SBB, die mit der TI&M Holding AG zusammenhängen, in den Ausstand.
Ferner erfolge der Zuschlag nach einer Ausschreibung stets nach den publizierten, sachlichen und transparenten Kriterien. Jordi habe zu keiner Zeit einem Projektteam angehört und auch zu keiner Zeit Zugang zu Daten gehabt, erklärt die SBB-Sprecherin. Weder sei er in den Vergabeprozess involviert gewesen noch darüber in Kenntnis gesetzt oder mit Informationen versorgt worden.
Darüber hinaus verweisen die SBB auf ihre internen Richtlinien. «Der Vergabeprozess ist strikt vertraulich und involviert bis zum Zuschlag nur diejenigen Personen, welche für die Beschaffung notwendig und zuständig sind», sagt die Sprecherin dazu. Reiche ein Unternehmen eine Offerte ein, informiere man es jeweils detailliert über die Resultatfindung. Genau das sei auch bei jenen Projekten der Fall gewesen, an denen TI&M beteiligt war.
Und schliesslich stelle man jeweils vor und während des ganzen Verfahrens sicher, dass keine Interessenskonflikte entstünden, beteuern die SBB. «Bereits beim Anschein eines möglichen Interessenkonfliktes werden die betroffenen Personen aus dem Beschaffungsprojektumfeld entfernt.»
Allen Beteuerungen und Vorkehrungen zum Trotz: Kaum verhindern lässt sich das, was Controlling-Experten als «blinden Fleck» bezeichnen. Wenn Angestellte die Offerte eines Anbieters prüfen, bei dem jemand aus ihrer höchsten Chefetage im Dienst steht, könnte sie das zumindest unterschwellig sehr wohl beeinflussen.