Auf der einen Seite ein charismatischer, machtbewusster Konzernchef. Auf der anderen ein schwacher Kopfnicker-Verwaltungsrat, der ihm freie Hand lässt und beide Augen zudrückt. Bis es irgendwann zum grossen Knall kommt. So geschehen beim Absturz der National-Airline Swissair vor bald 20 Jahren. Und nun bei Raiffeisen, der drittgrössten Schweizer Bankengruppe.
Im Fall der Swissair hiess der CEO Philippe Bruggisser. Er konnte seine verheerende Hunter-Strategie mit Rückendeckung eines Verwaltungsrates durchziehen, der alle Warnsignale ignorierte. Bei der Raiffeisen ist es Ex-Chef Pierin Vincenz. Er sitzt seit einer Woche in Untersuchungshaft. Vincenz wird verdächtigt, bei Firmenübernahmen in die eigene Tasche gewirtschaftet zu haben.
Vom Starbanker zum U-Häftling: So tief wie der Bündner ist kaum ein Wirtschaftsführer in der Schweiz gefallen. Für Pierin Vincenz gilt die Unschuldsvermutung, doch auch in seinem Fall besteht der Verdacht, dass der Verwaltungsrat seine Kontrollfunktion nicht wahrgenommen hat. «Die gutbezahlten Mitglieder profitierten lieber vom Glanz des Konzernchefs, der zeitweise wie ein kleiner Sonnenkönig auftrat», schrieb die «NZZ am Sonntag» in einem bissigen Kommentar.
Natürlich gibt es grosse Unterschiede zwischen den beiden Fällen. Als sich der Swissair-VR endlich dazu aufraffen konnte, Bruggisser vor die Tür zu stellen, war die einstige «fliegende Bank» ausgezehrt. Die Raiffeisen-Gruppe hingegen ist kerngesund. Der neue CEO Patrick Gisel konnte letzte Woche einen Rekordgewinn von 917 Millionen Franken verkünden.
Der Absturz des 2015 abgetretenen «Sonnenkönigs» Vincenz aber verpasst dem bislang fast makellosen Image der «Volksbank» Raiffeisen mehr als nur ein paar Kratzer. Nach der Finanzkrise erlebte sie ein starkes Wachstum. Viele Kundinnen und Kunden, die über die skrupellose Geschäftemacherei der Grossbanken empört waren, wechselten zur «bodenständigen» Raiffeisen.
Ich selber bin seit vielen Jahren Kunde und Genossenschafter. Bei Raiffeisen fühlte ich mich als «Normalverdiener» ernst genommen, anders als bei den «Grossen» CS und UBS. Das Gebahren von Pierin Vincenz aber verfolgte ich stets mit einiger Skepsis, auch als er nach der Finanzkrise als eine Art Lichtgestalt der diskreditierten Bankerkaste gefeiert wurde.
Der charismatische Bündner beherrschte den öffentlichen Auftritt. Gleichzeitig gab er sich jovial und volksnah. Journalisten bot er schnell einmal das Du an (ich hatte nie direkt mit ihm zu tun). In einem grossen Porträt, welches «Das Magazin» vor fünf Jahren veröffentlichte, sagte er, man solle von ihm in Erinnerung behalten, «dass man auch mal ein Bier mit dem Vincenz trinken konnte».
Gleichzeitig hatte man den Eindruck, dass die Welt der Kleinsparer und Hüslibauer, aus denen die Raiffeisen-Gemeinde besteht, für ihn nie genug war. Nach der Finanzkrise expandierte Vincenz mit der im ländlichen Raum verwurzelten Bank in die Städte und Agglomerationen. Heute gibt es eine Raiffeisen-Filiale in Zürich, nicht am Paradeplatz, aber am Limmatquai.
Im Gegenzug wurden Filialen auf dem Land geschlossen oder fusioniert, was da und dort für böses Blut sorgte. Das galt besonders für die Zweigestelle in Bichelsee im Hinterthurgau, wo der Dorfpfarrer 1899 die erste Bank in der Schweiz nach dem Vorbild der deutschen Raiffeisen-Bewegung gegründet hatte. Pierin Vincenz liess der Protest kalt.
Dafür übernahm er Firmen wie die Kreditkartengesellschaft Aduno und das Beratungsunternehmen Investnet, die ihn nun ins Visier der Justiz brachten. Höhepunkt war der Kauf des «gesunden» Teils der Privatbank Wegelin, nachdem diese von der US-Justiz in die Knie gezwungen worden war, und die Umbenennung in Notenstein La Roche. Das noble Private Banking und Raiffeisen – irgendwie passte das nicht zusammen. Tatsächlich läuft es Notenstein heute alles andere als rund.
Ein heikler Fall war die Ernennung von Vincenz' Ehefrau zur Chefin der Rechtsabteilung von Raiffeisen. Das entspricht kaum den Kriterien einer guten Unternehmensführung (Corporate Governance). Der Verwaltungsrat um Präsident Johannes Rüegg-Stürm schritt trotz deutlicher Kritik nicht ein. Erst jetzt räumte er im Interview mit der «NZZ am Sonntag» ein, dies sei «eine unglückliche Konstellation» gewesen.
Problematisch an Vincenz war auch sein Lebensstil mit Helikopterflügen und Luxusvilla in Teufen (AR), dem Freienbach von St. Gallen. Er kontrastierte mit dem Image des «Volksbankers». Dies zeigt auch eine Episode im «Magazin»-Porträt, die sich auf den Ex-Wegelin-Chef Konrad Hummler bezieht: Man sehe nicht etwa den Raiffeiseler Vincenz «mit Veloklammern an den Hosenbeinen in die Migros in Teufen radeln, sondern den Private Banker Hummler».
Zeitweise soll Pierin Vincenz drei bis vier Millionen Franken pro Jahr verdient haben. Genaue Zahlen gab die genossenschaftlich organisierte Raiffeisen nicht bekannt. Nun muss die Bank die beschädigte Glaubwürdigkeit reparieren. Das sollte auch personelle Konsequenzen zur Folge haben, besonders im Verwaltungsrat. Auch Konzernchef Patrick Gisel, der langjährige Weggefährte von Pierin Vincenz, muss sich unangenehme Fragen gefallen lassen.
Vincenz wiederum muss wohl vor Gericht. Auf beiden Seiten haben sich hochkarätige Juristen in Stellung gebracht. Der Prozess würde «vermutlich als grösster Wirtschaftsfall seit dem Swissair-Prozess in die Zürcher Justizgeschichte eingehen», schreibt die «Aargauer Zeitung». Philippe Bruggisser wurde damals übrigens freigesprochen. In Untersuchungshaft musste er nie.