So ein Kunstherz, erzählt mir Sabine Dahinden, besitze «eine winzige Schraube, die der Schraube eines Motorschiffs ähnlich ist». Sie weiss das, weil ihr Mann kein anderer ist als der berühmteste Herzchirurg der Schweiz, nämlich Thierry Carrel, und ich frage sie, wie man sich ein Tischgespräch bei ihnen zuhause vorstellen müsse, etwa als grosse Fachsimpelei über alte und neue Maschinen der Verkehrs- und Medizingeschichte? Teilweise sicher.
Immer, wenn ich Sabine Dahinden am Fernsehen begegne, reist sie gerade mit irgendeiner Maschine durch die Schweiz. Mindestens aber mit einem Velo. Jedenfalls ist das mein Eindruck. Sabine Dahinden ist der Nik Hartmann auf Rädern. Abertausenden von Fernsehzuschauern imponiert sie damit gewaltig. Meinen Eltern, zum Beispiel. Jetzt schwärmt sie von den «schwungvollen Karosserien der Oldtimer, der majestätischen Eleganz der Dampfschiffe», von «Schrauben, Nieten, Ventilen, von denen man denkt, dass sie ewig halten». Von schönen alten Dingen also. Aus der Zeit vor 100 Jahren.
Sabine Dahinden ist die Frontfrau von «Anno 1914», von der riesigen SRF-Retroaktion, die ab Montag versuchen wird, uns die Schweiz in jener fragilen Zeit näher zu bringen, als Europa implodierte. Als der ganze technologische Fortschritt, der damals atemberaubend war, nur in einem mündete, in Kriegsmaschinerie. Als die grossen geistigen Entwürfe der Moderne eingefroren wurden. Ein schon fast halsbrecherisch ehrgeiziges Unterfangen.
Ein früherer Versuch, der teure Vierteiler «Die Schweizer» war ja 2013 fatal gescheitert. Ein hypothetisches Re-enactment grosser Männer und ihrer Mythen. Nicht uninteressant, ganz und gar nicht, aber schlecht geschrieben und schlecht gespielt, und von Anfang an interessierte die Medien nur die eine Frage: Wo waren in dieser Recherche die Frauen abgeblieben?
Jetzt, in «Anno 1914» sind die Frauen vorbildlich als Akteurinnen präsent. In Form der Frau auf Rädern, die in «Dahinden anno 1914» mit einem Buick über den Sustenpass und mit einem Elektromobil durch Bern fährt, die in einer Dampflokomotive und im Heissluftballon unterwegs ist und den Zuschauern den damaligen Fortschritt und die neue Geschwindigkeit zeigt. Aber auch in der historischen Dokusoap «Anno 1914 – Die Fabrik», allabendlich ausgestrahlt im Rahmen von «Schweiz aktuell». Da lässt sich die Familie Büchi von heute 100 Jahre zurückversetzten und lebt den kargen Alltag einer Weberfamilie im zürcherischen Bauma.
Natürlich erinnert das alles ein wenig an ländliches Sommer-Laientheater, aber spannend ist es dennoch, die Diskrepanz zwischen den Schichten, zwischen der Direktorenfamilie Thaler, die in der Villa thront, sich verlustiert und ein Auto aus Amerika importiert, und den Büchis, die nichts besitzen, zu viert in einem Raum schlafen, bei einer ganz normalen 56-Stunden-Woche zusätzliche Nachtschichten nicht kompensieren dürfen und sich glücklich schätzen müssen, weil der Patron allgemein als gütig und grosszügig gilt. Schon damals, das wird sehr schön gezeigt, war die Schweiz eine migrantische Gesellschaft.
Die Abhängigkeit der Frauen, die nahm in dieser Gesellschaft von unten nach oben zu. Der Alltag der Weberin war mit dem ihres Mannes fast identisch. Beide arbeiteten und verdienten, und die Kinder über 14 Jahren ebenfalls. Der Alltag der Fabrikdirektorin dagegen bestand in einem rein hintergründig-dekorativen Wirken als Hausfrau, als Kupplerin, als Kommunikations-Beauty am Ball im Kandersteg. Der Ball wurde im Mai extra fürs Fernsehen rekonstruiert, er nannte sich Belle-Epoque-Frühlingsball und fand im Hotel Victoria statt, und Sabine Dahinden nahm daran in einem puderrosa Kostüm von einst teil.
War das Kleid Traum oder Trauma? Weder noch, sagt sie, eine Verwandlung eben, eine Anverwandlung einer anderen Existenz. «Aber täglich», sagt sie, «möchte ich nicht ein Korsett, lange Unterwäsche, verschiedene Kleiderschichten und eine Unmenge von Haarnadeln montieren müssen! Spannend war für mich zu erleben, dass man sich mit einem vornehmen Belle-Epoque-Kleid sofort anders verhält, man wird zur Dame, die von Zofe oder vom Mann abhängig ist. Mit einem Korsett kann man sich nicht einmal mehr selber die Schuhe binden!» Genau wie die Fabrikdirektorin. Die korsettierte Frau.
Sabine Dahindens Grossvater war Elektroingenieur, sie selbst hat ihr Herz nicht nur an die Kunstherzen ihres Mannes und an dessen «miniaturisierte Herz-Lungen-Maschine» verloren, sondern auch an all die Gerätschaften aus der Belle Epoque, die 1914 so abrupt endete. Und nicht nur die Wunderwelt des Verkehrs gehört dazu, sondern auch die des frühen Kinos. Kurz: SRF wird einen alten Porno zeigen! Jedenfalls einen Ausschnitt.
«Die Zeit um 1900 war die grosse Zeit des Kinos», erklärt Sabine Dahinden, «In Wanderkinos schauten sich die Leute Szenen aus dem eigenen Dorf an, die ersten grossen Lichtspielhäuser wurden gegründet, der Film wurde geschnitten, dramaturgisch gestaltet, die Menschen lechzten nach Geschichten. Die Behörden kontrollierten die Kinobesitzer allerdings scharf, damit keine unsittlichen Szenen gezeigt wurden. Im Versteckten kursierten aber bereits Pornofilme – wir werden einen kurzen Ausschnitt zeigen, müssen aber auch im Jahr 2014 noch darüber diskutieren, wie viel wir dem Publikum zumuten können.»
Den sachlich analytischen Rahmen zu 1914, den steckt übrigens eine dritte Sendung ab, nämlich «Anno 1914 – Die Wochenschau». Da diskutieren Fachmenschen über die gesellschaftlichen und politischen Umstände, ergänzt durch Archivmaterial. «Anno 1914» ist eine volkshochschulische Intensivbehandlung, da stellt sich SRF mal wieder seinem Auftrag des «service public». Wenn es gelingt, sind wir nachher wirklich weiser und wissen mehr über eine Zeit, die für Europa so wegweisend war. Und für uns. Und deren Errungenschaften in einer direkten Linie zu den Kunstherzen von heute führen. Und zu den Pornos. Und das will man sich ja nicht wirklich entgehen lassen.
(sme)