Den ersten Sessionstag nach der Zwangspause hat der Tessiner Grosse Rat dem Thema Covid-19 gewidmet. In teils emotionalen Statements blickten Parlamentarier zurück auf die schwierigen Wochen des Südkantons und übten Kritik an der Regierung. Um 22 Uhr tagte der Kantonsrat noch immer. Insbesondere die dritte Verlängerung des Notstands sorgte für Unbehagen.
Die Verlängerung des Notstands bis Ende Juni sei sinnvoll, erklärte Regierungspräsident Norman Gobbi zum Auftakt der Session «extra muros» im Luganeser Palazzo dei Congressi. Der zum dritten Mal verlängerte «stato di necessità» gebe dem Tessiner Krisenstab «Manövrierfreiheit».
Dank dem Notstand könne der kantonale Führungsstab die während der Krise geschaffene Infrastruktur aufrechterhalten und im schlechtesten Fall rasch reagieren, sagte Gobbi. Dies betrifft unter anderem die sechs ambulanten Untersuchungszentren in Locarno, Tre Valli, Mendrisio, Lugano, Agno und Giubiasco.
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Bereits im Vorfeld der Session war die Verlängerung des Notstands kritisiert worden. Nachdem die Regierung den Notstand als erster Kanton der Schweiz am 11. März ausgerufen hatte, verlängerte er diesen Status drei Mal, und zwar am 27. März, 15. April und 13. Mai.
Insbesondere die dritte Verlängerung bescherte dem Tessiner Regierungsrat Kritik. Für Grünen-Sprecher Nicola Schoenenberger ist dieser Akt eine Art Misstrauensantrag der Regierung an die Tessiner Bevölkerung: «Non è certo un segnale di fiducia nella popolazione.» - «Das ist ganz bestimmt kein Zeichen des Vertrauens in die Bevölkerung.»
Die SVP-Fraktion geht einen Schritt weiter und fordert in einer Parlamentarischen Initiative die zeitliche Beschränkung des Notstands auf zwei Monate. Zudem verlangt sie, dass jede Verlängerung dieses Status' durch den Kantonsrat bewilligt werden müsse.
Insgesamt standen an diesem Montagnachmittag 33 Motionen sowie unzählige Interpellationen auf dem Programm. Unter anderem sollten die Ratsmitglieder ein Maskenobligatorium in den öffentlichen Verkehrsmitteln und temporär flexiblere Öffnungszeiten von Restaurants und Läden an touristischen Hotspots diskutieren.
Doch die ersten Stunden zwischen 14 und 20 Uhr waren individuellen Statements von Ratsmitgliedern, Rückblicken und Debriefings gewidmet. Nach Regierungspräsident Gobbi sprachen auch die Regierungsräte Raffaele De Rosa, Manuele Bertoli und Christian Vitta, bevor sich Kantonsarzt Giorgio Merlani und Krisenstab-Leiter Matteo Cocchi zu den vergangenen Wochen und Monaten äusserten. Vitta appellierte an den Zusammenhalt der Bevölkerung, Merlani rief dazu auf, trotz Entspannung der Lage nicht in die alten Gewohnheiten «zurückzukippen».
Danach folgten zum Teil emotionale Voten der Fraktionssprecher. Sergio Morisoli von der SVP las den detaillierten Augenzeugenbericht eines Arztes vor, der das Sterben einer an Covid-19 erkrankten Frau begleitet hatte. Das Schlimmste an diesem Virus sei, dass die Menschen alleine sterben müssten, sagte ein sichtlich bewegter Morisoli. Auch andere Kantonsrätinnen und -räte äusserten ihr Mitgefühl gegenüber all jenen, die einen Menschen verloren hatten.
Dieses Bedürfnis vieler Ratsmitglieder, Rückschau zu halten, zeigte nicht zuletzt die Verfassung einer Bevölkerung, die in den vergangenen Wochen offensichtlich eine «andere» Krise erlebt hat als die Deutschschweiz. (sda)