In den letzten fünf Jahren hat in Schweizer Spitälern eine kleine Revolution stattgefunden. Laut Umfrage dieser Zeitung setzen heute 7 der 10 grössten Kantons- und Unispitäler standardmässig KI-Programme ein.
Besonders in der radiologischen Diagnostik hat sich die Technologie etabliert. Denn die Analyse von Bildern und das Erkennen von Krankheitsmustern lassen sich mit Machine Learning sehr gut trainieren. Algorithmen finden Brustkrebs-Knötchen im schwarz-weissen Ultraschall eher als menschliche Augen. Es gibt bereits eine Fülle von Programmen, die im Krebs-Screening mehr Tumore erkennen als erfahrene Ärzte.
Die moderneren Kantonsspitäler lassen deshalb schon heute KI-Software über Patientenbefunde laufen. Sebastian Schindera, Leiter des Instituts für Radiologie am Kantonsspital Aarau, berichtet:
Am meisten von der Technologie profitiert haben dürften bisher schwere Raucher, weil die meisten KI-Anwendungen Lungentumore erkennen. Aber auch Leute mit Gefässverengungen, beispielsweise Herzinfarktgefährdete oder Menschen mit Hirnschlagrisiko, werden dank der KI besser diagnostiziert. Justus Roos, Radiologiechefarzt am Luzerner Kantonsspital, erklärt:
Der Einsatz beschränkt sich nicht auf die Radiologie. Das Unispital Genf war vor zwei Jahren das erste Spital in Europa, das «Watson for Genomics» einführte, ein KI-Tool von IBM, das die Genmutationen von Krebspatienten klassifiziert und die vielversprechendste Therapie automatisch aus klinischen Studien und riesigen Datensätzen heraussucht. Das Programm braucht für eine Patientenanalyse 10 Minuten. Ärzte hätten laut IBM für die gleiche Arbeit 160 Stunden.
«Watson hat uns ermöglicht, die Abläufe flüssiger und schneller zu machen», erklärt Petros Tsantoulis, Arzt auf der Onkologiestation in Genf. Gerade in der Onkologie bringt das den Patienten viel, denn die Ärzte haben dank KI viel mehr Zeit für die direkte Betreuung. Ohne KI müssten sie dagegen stundenlang vor dem Computer Studien nach passenden Medikamenten durchsuchen. In Genf wurde die Software darum bereits bei mehr als 500 Patienten eingesetzt.
Am Universitätsspital Basel arbeiten Dermatologen derweil mit einem 3-D-Ganzkörperscanner, der mit Hilfe von KI-Software automatisch Hautkrankheiten erfasst. Doch gerade in der Dermatologie zeigt sich ein Makel der Technologie. Die neuen lernfähigen Programme sind technisch so kompliziert aufgebaut, dass nicht mehr so einfach nachvollziehbar ist, weshalb sie einen Entscheid treffen. Konkret heisst das: Die Ärzte wissen nicht, warum der eine schwarze Hautkrebs richtig identifiziert wird und der andere nicht. Das macht es für KI-Entwickler schwierig, bei Fehlern zu intervenieren.
Trotz beeindruckender Resultate dürfen die Programme in der Schweiz noch nicht selbstständig Diagnosen stellen. «Das Kantonsspital Baselland setzt für Erstdiagnosen ausschliesslich auf menschliche Expertise», erklärt Rolf Hügli, der dortige Leiter des Instituts für Radiologie. KI-Software werde nur im Sinn einer Zweitmeinung verwendet. Dies, weil Programme, die nur zur Hilfe beigezogen werden, deutlich weniger strenge gesetzliche Anforderungen erfüllen müssen.
Doch das Gesetz ist in fast allen westlichen Staaten veraltet. Ursprünglich wurde es eher locker ausgelegt, um die Entwicklung von neuen KI-Anwendungen zu fördern. Der technische Fortschritt war in den letzten Jahren aber so rasant, dass er die Rechtsauslegung überholt hat. Die leistungsfähigsten KI-Anwendungen können heute nicht zugelassen werden, weil noch gar nicht geregelt ist, welche Anforderungen sie erfüllen müssen.
Wichtigster Knackpunkt ist die Lernfähigkeit der Programme. Einige KI-Produkte, die mit Deep Learning funktionieren, lernen selbstständig und werden mit jedem analysierten Patienten besser. Das braucht aber riesige Rechenleistung und birgt die Gefahr, dass die Software sich automatisch verschlechtert, wenn sie einen Fehler macht. Denn im Fall einer unerkannten Fehldiagnose «lernt» das System falsche Informationen. Auf eine Fehldiagnose folgen weitere. Der Einsatz solcher lernfähigen Software wird deshalb noch nicht bewilligt.
Die bereits zugelassenen Anwendungen basieren alle auf starren Programmen, die mit einer endlichen Menge an Daten trainiert wurden. Bei diesen KI-Produkten können Gesundheitsbehörden sicherstellen, dass ein gewisses Qualitätsniveau gegeben ist. Sprich, die Software nicht nur mit Daten aus Mitteleuropa trainiert wurde und bei Patienten aus der Schweiz gut funktioniert, sondern auch bei Patienten mit chinesischem oder arabischem Hintergrund. Das gleiche gilt für Unterschiede, die durch das Geschlecht bedingt sind.
Zumindest das Problem der rechtlichen Wirrungen könnte sich in Europa bald lösen. Die Europäische Union plant, ihre Verordnungen in den nächsten zwei Jahren zu überarbeiten. Und in der Schweiz tut sich ebenfalls etwas. Die Zulassungsbehörde Swissmedic hat eine Kooperation mit grossen Medizintechfirmen angekündigt und will in den nächsten vier Jahren 9 Millionen Franken in das Erforschen von KI investieren.
Bezüglich KI-Innovationen steht die EU im internationalen Vergleich schon jetzt sehr gut da. Eine aktuelle Zürcher Studie zeigt, dass in der EU in den letzten fünf Jahren insgesamt mehr KI-basierte Medizinprodukte zugelassen wurden als in den USA. Dazu waren die europäischen Behörden beim Entscheiden schneller: Bei jenen KI-Gadgets, die sowohl in Amerika als auch in Europa zugelassen wurden, erfolgte der Entscheid in 98 Prozent der Fälle zuerst in der EU.
An diesen guten Zahlen sind Schweizer Spitäler und Universitäten beteiligt. Im internationalen Ranking der meisten Publikationen zum Thema KI liegt die Schweiz auf Platz 14, führend ist China. Wenn man die Anzahl Zitierungen mitberücksichtigt und mit der reinen Anzahl der Publikationen verrechnet, ist die Schweiz sogar die Nummer eins der Welt. Das schreibt das Staatssekretariat für Bildung und Forschung in seinem Bericht zur aktuellen Lage an den Bundesrat.
Damit das so bleibt, wird derzeit viel Geld in die KI-Forschung investiert. Erst vorletzte Woche hat die Universität Bern ein neues Zentrum für künstliche Intelligenz in der Medizin eröffnet. An der Einweihungsfeier stellten die dort arbeitenden Forscher drei ambitionierte Projekte vor, welche alle das Potenzial haben, ganze Fachgebiete zu revolutionieren: Zum einen wurde eine Software vorgestellt, welche die Arbeit von Chirurgen im Operationssaal überwachen soll. Wenn Chirurgen beim Operieren Bewegungen machen, die auf Müdigkeit hindeuten, schlägt das System Alarm.
Eine weitere KI soll bei Covid-Patienten anhand kombinierter Daten aus CT, Röntgen und Blutlabor eine Prognose des Verlaufs erstellen. Und ein drittes Programm soll aus Bildern von Lebensmitteln automatisch die Nährstoffe herauslesen und Patienten so eine massgeschneiderte Ernährung ermöglichen.
Angesichts des rasanten technologischen Fortschritts würde man erwarten, dass die Ärzte den Aufstieg der KI kritisch sehen. Doch eine Umfrage bei den Direktbetroffenen – zehn Radiologie-Chefärzte – offenbart das Gegenteil: Die deutliche Mehrheit sieht im Einsatz von KI vor allem Vorteile.
Justus Roos, Leiter des Instituts für Radiologie und Nuklearmedizin am Luzerner Kantonsspital, erklärt:
Der Luzerner Arzt glaubt nicht, dass KI die Arbeitsplätze von Ärzten bedroht. Denn die abschliessende Interpretation medizinischer Daten werde Aufgabe des Menschen bleiben.
Dieselbe Ansicht vertritt auch Andreas Boss vom Unispital Zürich. Der Radiologieprofessor entwickelt selbst KI-Software für Spitäler und warnt davor, die Fähigkeiten der Technologie zu überschätzen. Boss: «KI-Programme sind gut für das Lösen von ganz spezifischen Fragestellungen. Aber die Gesamtverantwortung über einen medizinischen Entscheid muss am Ende beim Menschen bleiben.» Das sei auch aus Patientensicht klar. Denn wenn ein KI-Programm einen Fehler macht, ist unklar, wer dafür haftet.
Auflösung zum Bild: Links das maligne Melanom (schwarzer Hautkrebs), rechts ein harmloser Naevus (aargauerzeitung.ch)
Hier hat sich das Gesundheitswesen in horrendem Tempo entwickelt.
Bis aber das Faxgerät abgelöst wird, kann es noch eine Weile dauern.