In Samedan GR lässt der Klimawandel die Gletscher schmelzen. In Lausanne VD gehen die Behörden im Kampf gegen die drückende Last der Krankenkassenprämien neue Wege. In Sigriswil BE ist beinahe jeder Dritte Bewohner im AHV-Alter. Und in Chiasso TI reist jeder zweite Erwerbstätige jeden Morgen aus Italien zur Arbeit an.
watson ist kurz vor den eidgenössischen Wahlen in vier ganz unterschiedliche Gemeinden gereist. Sie stehen exemplarisch für jene Themen, welche der Bevölkerung am meisten Sorgen bereiten. Vor Ort haben wir mit Menschen Gespräche geführt, welche tagtäglich mit diesen Herausforderungen konfrontiert sind.
Herr Keller, Sie sind in Samedan aufgewachsen. Wie hat sich die Oberengadiner Gletscherwelt seit Ihrer Kindheit verändert?
Felix Keller: Nun, da hat sich einiges verändert. Als Bub erlebte ich die extrem niederschlagsreichen Winter der 70er Jahre. Die grosse Schneemenge führte dazu, dass sich etwa der Morteratschgletscher teilweise ausdehnte. Das war während meiner Zeit als Skilehrer in Pontresina in den 1980er Jahren in manchen Jahren auch noch der Fall. Seit den 90er Jahren hat sich dieses Bild stark verändert.
Inwiefern?
Der Morteratsch- und die anderen Gletscher der Region haben sich stark zurückgebildet. Für die Engadiner Post schreibe ich derzeit eine Kolumne zum Thema Klimawandel. Ich habe bei der Recherche einen älteren Artikel von mir aus dem Jahr 1996 gefunden mit dem Titel: «Klimawandel – noch nie so aktuell wie jetzt». Das Verrückte ist: Inhaltlich müsste ich eigentlich kein Wort daran ändern. Nur hat die Dringlichkeit zugenommen. Erschreckend ist: Ich habe die Prognosen der letzten 30 Jahre, wie drastisch sich der Klimawandel auswirken wird, alle gekannt. Ich hätte nie gedacht, dass die Auswirkungen nun dermassen heftig auftreten. Noch heftiger gar, als von den Prognosen vorausgesagt.
Ist der Klimawandel ein Sorgenthema für die Bevölkerung in Samedan?
Meine Antwort wird Sie jetzt vielleicht etwas erstaunen. Aber ich spreche im Zusammenhang mit dem Klimawandel ungern von einem Sorgenthema. Seit 2004 unterrichte ich an der ETH Zürich Lehrpersonen in Umweltdidaktik. Rasch habe ich gemerkt: Um die Kluft zwischen Wissen und Handeln im Umweltbereich zu überwinden, müssen wir uns damit befassen, nach welchen Motivationsmuster der Mensch handelt.
Was meinen Sie damit?
Die Forschung weiss: Wenn wir uns bedroht fühlen, wenn wir glauben, der Weltuntergang stehe unmittelbar bevor, sind wir weniger motiviert, tatsächlich zu handeln, als wenn wir das Positive sehen. Insofern müssen wir im Klimawandel eine Herausforderung sehen, die wir mit Freude angehen. Denn wenn wir mit Freude ans Werk gehen, gelingen uns die besseren und mutigeren Lösungen. Wenn wir uns nur davor fürchten, machen wir beim Klimawandel maximal nur genau soviel, wie unbedingt nötig ist – und so wie ich die Menschen kenne, dann am Ende doch noch weniger als das. Danach tönt es, wenn Politiker nun auf die Bremse treten und sagen, beim Klimawandel müsse man sich am Machbaren orientieren. Dabei wäre es hier wirklich nicht schlimm, mehr als das minimal notwendige für unsere Umwelt zu tun.
Und tun wir mehr als das Minimum?
Im Hinblick auf die Wahlen freut es mich auf jeden Fall sehr, dass das Problem endlich ernst genommen wird. Zu handeln ist viel schöner als nur zu problematisieren. Ich hoffe deshalb, dass wir in vier Jahren auf die Legislatur zurückblicken können und sagen: Schön, dass die Politiker so viel und so sinnvoll gehandelt haben. Denn der Mensch sucht immer nach einer Sinnhaftigkeit in seinem Handeln. Und wenn man im Klimaschutz keinen Sinn sieht, dann weiss ich auch nicht mehr weiter.
Gibt es Chancen für Samedan, für das Oberengadin, im Zusammenhang mit dem Klimawandel?
Es mag zwar tatsächlich vereinzelte kurzfristige Vorteile für unsere Region geben: Etwa hitzegeplagte Norditaliener, die im Sommer verstärkt bei uns Abkühlung suchen. Oder Wintertouristen, die von weniger schneesicheren Skigebieten zu uns ausweichen. Aber in diesem Zusammenhang von Chancen zu sprechen, finde ich zynisch. Wenn bei uns oben alles beim Besten ist, aber rundherum die Welt zusammenbricht, kommt trotzdem kein einziger Gast zu uns. Wo aber eine echte Chance liegt: Für die Herausforderung Klimawandel müssen wir vernetzter denken und nachhaltiger leben. Das eröffnet neue Möglichkeiten.
Worin bestehen diese Möglichkeiten?
Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Im Jahr 2000 habe ich die Gemeinde Samedan im Zusammenhang mit dem damaligen Hochwasserschutzproblem beraten. Dieses war eine Folge des Klimawandels, weil der Niederschlag im Sommer auch in grosser Höhe in Form von Regen statt Schnee niedergeht. Auf Betreiben des Fischerei-Verbands und dank breiter Unterstützung der Bevölkerung entschied man sich für eine Renaturierung des Flazbachs und des Inn. Diese Lösung kostete zwar mehr als andere Vorschläge. Aber dank ihr haben wir eine einzigartige Auenlandschaft erhalten, die nicht nur Schutz vor Hochwasser bietet, sondern auch Naturfreunde, Fischer, Wanderer und Langlauftouristen erfreut. Jetzt ziehen die Nachbargemeinden nach. So lässt sich auch ein echt nachhaltiger, grüner Tourismus im Oberengadin etablieren. Bei dem wird zwar niemand über Nacht sagenhaft reich. Aber wir bewahren unsere einzigartige Landschaft für unsere Kinder und Enkel und für zukünftigen Gäste.
(cbe)
Frau Ruiz, in ihrem Kanton zahlt seit diesem Jahr niemand mehr als 10 Prozent seines Lohns für die Krankenkasse. An den hohen Gesundheitskosten rüttelt das aber nicht. Ist das nicht reine Symptombekämpfung?
Rebecca Ruiz: Das ist Symptombekämpfung, ja. Aber was ist daran falsch? Die Prämien sind heute für viele Waadtländer und Schweizer allgemein eine grosse Last. Es ist Aufgabe der Politiker, diese Leute konkret zu unterstützen. Ausserdem strapazieren die hohen Prämien nicht nur die Haushaltsbudgets, sondern auch die Kaufkraft und somit schlussendlich unsere gesamte Wirtschaft. Wir sind aber natürlich auch verantwortlich dafür, das Grosse und Ganze anzugehen. Heisst hier: die in die Höhe schnellenden Gesundheitskosten.
Wie viel kostet den Kanton Waadt die Zehn-Prozent-Regel?
Für Prämienverbilligungen geben wir insgesamt 800 Millionen aus. Die Zehn-Prozent-Regel wird zusätzlich rund 80 Millionen beanspruchen.
Ihre Partei, die SP, will das Schweizer Stimmvolk über eine solche Regel auf nationaler Ebene abstimmen lassen. Die Unterschriftensammlung läuft. Mit der Initiative kämen auf Bund und Kantone neue Ausgaben in Milliardenhöhe zu. Wie soll das finanziell langfristig aufgehen?
Es handelt sich um politische Prioritäten, die man sich entweder setzt oder nicht. Wenn der Bund Überschüsse in Milliardenhöhe angehäuft hat, darf verlangt werden, dass die Arbeiter- und Mittelklasse unterstützt wird. Und diese nicht aus Kostengründen auf medizinische Behandlungen verzichtet.
Prämienverbilligungen für finanziell schlecht gestellte Menschen gibt es hierzulande schon lange. Reicht das nicht?
Die Prämienverbilligungen sind einkommensabhängig und werden zudem je nach Kanton restriktiver gehandhabt. Gewisse Kantone haben ihren Anteil an den Prämienverbilligungsbeiträgen in den letzten Jahren gesenkt. Die Prämien steigen aber seit Jahren rasant an und haben sich somit von der Entwicklung der Prämienverbilligung entkoppelt. Zudem entlastet die Zehn-Prozent-Regel insbesondere den Mittelstand, der zu viel verdient, um Anspruch auf reguläre Prämienverbilligungen zu haben.
Erst letzte Woche hat Gesundheitsminister Alain Berset die Prämien für 2020 bekanntgegeben. Schweizweit steigen sie lediglich um 0,2 Prozent, in Ihrem Kanton sinken sie sogar um 0,3 Prozent. Die Erhöhung liegt damit weit unter dem Durchschnitt von 3.8 Prozent Erhöhung pro Jahr seit der Einführung des Krankenversicherungsgesetzes 1996. Also alles halb so schlimm?
Dass der Prämienanstieg auf nächstes Jahr geringer ausfällt als auch schon, nützt den Versicherten leider wenig. Für viele von ihnen ist die Schmerzgrenze längst erreicht. Die Prämien bleiben hoch. Es ist nicht so, als läge die Prämie plötzlich bei 200 statt 400 Franken. Für den Kanton Waadt ist die Senkung zudem nur eine faire Rückgabe. Die Ausgaben waren 2018 tiefer als die Einnahmen durch die Prämien. Sie haben also zu viel bezahlt.
Fakt ist aber: Die Gesundheitskosten steigen gesamthaft weiter an.
Dagegen gibt es diverse Lösungsansätze, angefangen bei den exorbitanten Medikamentenpreisen oder verstärkte Rechnungskontrollen. Grundlegende Massnahmen sind politisch jedoch extrem schwierig durchzusetzen. Die Mehrheit der Parlamentarier in den Gesundheitskommissionen sind Lobbyisten eines Sektors. Ich habe Debatten mitverfolgt, die extrem weit vom Wohl der Bürger entfernt waren und dafür im Dienst der Krankenkassen- und Pharma-Branche standen. Das ist doch krank. Ich hoffe sehr, dass sich die Zusammensetzung der Gesundheitskommissionen bei den kommenden Wahlen ändert. Und dass künftig mehr Lobbyisten der Versicherten dort sitzen.
(kün)
Frau Adams, warum hat es in Sigriswil so viele alte Menschen?
Helena Adams: Man sollte die Statistik nicht falsch interpretieren. In Sigriswil ist ein beachtlicher Anteil der Einwohner über 65 Jahre, weil es viele Auswärtige hat, die im Pensionsalter hierhin ziehen. Sie kommen nach Sigriswil wegen der idyllischen Wohnlage; die Sicht auf den Thunersee und den Niesen. Ausserdem verfügt das Dorf über ein übermässig gutes Einkaufsangebot: Metzgerei, Molkerei, Bäckerei, Schuh- und Kleiderladen, Gemüsehändler und sogar eine Postfiliale – alles in Gehdistanz erreichbar. Das ist den Senioren wichtig. In der Schweiz ist dies mittlerweile jedoch eher eine Seltenheit. Und müssen sie dennoch in eine Stadt, fährt zweimal pro Stunde ein Postauto direkt nach Thun.
Frau Egger, Sie arbeiten jeden Tag mit Seniorinnen und Senioren zusammen. Was beschäftigt die älteren Menschen am meisten?
Verena Egger: Zunächst: Der Eintritt ins Altersheim ist ein heftiger Einschnitt. Es ist nicht nur das Zügeln, sondern auch der Gedanke, dass sie nun das letzte Mal umgezogen sind. Im Alltag sorgen sie sich vor allem um ihre Gesundheit, sie wünschen sich, dass es ihnen gut geht und sie keine Schmerzen haben. Die Bewohner haben aber auch finanzielle Sorgen, ganz klar. Die meisten waren wegen des Heimaufenthalts gezwungen, das Haus zu verkaufen – das ist ein sehr schwieriger Schritt. Das Eigenheim war ein Lebensziel von ihnen. Ich hatte schon mehr als ein Gespräch, in dem jemand gesagt hat, er oder sie würde lieber sterben, als das Haus zu verkaufen.
Wie haben die Bewohner fürs Alter vorgesorgt?
Egger: Unsere Bewohner haben fürs Alter gespart. Sie kommen aus einer Generation, die für sich selbst gesorgt hat. Deshalb ist es umso schwerer für sie, wenn sie aufgrund von finanziellen Problemen Ergänzungsleistungen beziehen müssen. Sie wollen nicht vom Staat abhängig sein.
Die Überalterung betrifft vor allem auch die Altenpflege. Welche Schwierigkeiten wird ihre Branche in Zukunft haben?
Adams: Die Gefahr besteht, dass die nachkommende Generation die Qualität dieser Dienstleistung, die wir uns in der Schweiz auf die Fahne schreiben, gar nicht mehr leisten kann. Und hier rede ich vom Personal – von den Kosten müssen wir gar nicht erst anfangen. Was mir als auch bald Pensionierte ausserdem Sorgen bereitet, ist die Arbeitseinstellung der nachfolgenden Generation. Unsere Sozialsysteme sind darauf ausgerichtet, dass man ohne Familienpflichten 100 Prozent arbeitet. Und nicht immer wieder wegbleibt, Sabbaticals einlegt und dann den Wunsch hat, mit 65 schon die volle Rente zu erhalten. Es liegt nicht drin, mit 30 die erste Vollzeitstelle anzutreten. Die Jungen müssen unser Altersvorsorgesystem mittragen. Ansonsten ist die «Generation Freizeit» mitunter ein Grund, warum es kollabieren könnte.
Die «Generation Freizeit» demonstriert gerade weltweit für ein besseres Klima und bringt Politiker in Erklärungsnot.
Adams: Die Jungen geben den älteren die Schuld am Klimawandel. Dabei haben diese noch gelernt, Kleider zu flicken und nicht alles wegzuwerfen. Anstatt nur wegen des Klimas zu jammern, sollten sie beispielsweise lieber die Älteren fragen, wie es möglich ist, weniger zu konsumieren. Sie wurden in einer Mangelwirtschaft gross und mussten mit wenig auskommen.
Wie viel kriegen denn die Bewohner von den Klimastreikenden mit?
Egger: Es beschäftigt sie sehr. Ein Bewohner sagte letztens zu mir: «Jetzt sollen wir Schuld am Klimawandel sein, dabei waren es nicht wir, die für ein Shopping-Wochenende nach London geflogen sind.»
(jah)
Frau Mirra, man sagt immer, im Tessin sei alles etwas anders als im Rest der Schweiz. Wie ist Ihre Wahrnehmung: Was macht den Kanton so besonders?
Lisa Bosia Mirra: Unsere Sprache, das Italienische, definiert unsere Denkweise. Das schafft eine Art Verbindung zur Kultur der nahe gelegenen Halbinsel. Ich denke, das macht das Tessin nicht nur vom Wetter sondern auch von der Mentalität her etwas mediterraner.
Sie sprechen das Italienische an. Sprachlich gehören die Tessiner in der Schweiz einer Minderheit an. Was bewirkt das?
Das führt manchmal zu einer nicht gerechtfertigten Selbstbemitleidung und zu Forderungen, die nicht immer konsequent sind. Aber zurück zur Besonderheit des Tessins. Ich muss zugeben, dass es mich immer etwas ratlos macht, darüber nachzudenken.
Warum?
Naja, weil es vielleicht diese Identität der Tessiner gar nicht wirklich gibt. Denn es ist schwierig, im Tessin einen Einwohner zu finden, der nicht mindestens einen Eltern- oder Grosselternteil aus dem Ausland oder aus der Deutschschweiz hat. Ich würde sagen, dass es vielleicht genau das ist, was das Tessin so besonders macht: Es ist ein Durchgangsort und hat darum die unterschiedlichen Mischungen von Blut und Kulturen in der DNA.
Sie leben in der unmittelbaren Nähe zu Italien. Was bedeutet es für Sie, so nahe an der Grenze zu leben?
Für mich heisst es, dass ich sehr leicht von der einen Seite auf die andere wechseln kann. In einer dreistündigen Reise erreiche ich Bern. Genauso bin ich in drei Stunden in Ligurien am Meer. Ich nutze das kulturelle Angebot in Mailand genauso wie jenes von Lugano oder Bellinzona. Für mich macht das die Grenze zu einer quasi imaginären Linie, die ich fast täglich aus verschiedenen Gründen überschreite. Was mich angeht, müsste diese Linie eigentlich nicht existieren. Sowieso ist für mich die nationale Souveränität etwas, das ich nur schwer begreife. Heute sind es Staaten, die die Linien definieren, früher waren es Grossgrundbesitzer. Ich weiss zwar, wie utopisch das klingt, aber ich finde, es wäre an der Zeit, das Konzept von Grenzen zu überwinden.
Illegale Migration, Grenzgänger, Staus: Ist die Grenze für die Tessiner mehr Fluch oder Segen?
Es gibt immer beide Seiten. Die Grenzgänger beispielsweise sind gleichzeitig eine Ressource und ein Problem. Lohndumping und der Substitutionseffekt sind eine Realität. Meiner Meinung nach kann das nur mit der Einführung eines Mindestlohns eingedämmt werden. Aber Grenzgänger bringen auch einen Gewinn. Mit ihrem Wissen bereichern sie unsere Universitäten, Krankenhäuser und den tertiären Sektor.
Sie sehen in der Grenze eine ungenutzte Chance?
Ich glaube, was in den Diskussionen über die Grenze im Tessin oft viel zu wenig Platz bekommt ist, dass die Nähe zu Italien auch ein Vorteil sein kann. Mailand ist eine Stadt mit über 3,5 Millionen Einwohner. Diese Metropole könnte und sollte für das Tessin ein wichtiger Ansprechspartner für die Industrie und für den Dienstleistungssektor sein. Es gibt grosse Unternehmen und Forschungszentren, die auf der Suche nach fähigen Menschen, Leute aus der ganzen Welt in die Schweiz holen. Vielleicht sollten wir uns im Tessin besser um unsere Grenzgänger kümmern, damit sie die Schweiz nicht wieder verlassen und ihr Glück woanders versuchen.
(sar)