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EU-Rahmenabkommen: Neue Ideen sorgen für Bewegung beim Lohnschutz

Corrado Pardini, SP-BE, spricht waehrend der Debatte ueber die Volksinitiative "Schweizer Recht statt fremde Richter" (Selbstbestimmungsinitiative), an der Sommersession der Eidgenoessischen ...
Nationalrat und Gewerkschafter Corrado Pardini begrüsst die neuen Vorschläge zum Lohnschutz.Bild: KEYSTONE

EU-Debatte: Nun geraten die Fronten auch beim Lohnschutz in Bewegung

Der Schutz vor Lohndumping ist ein zentraler Streitpunkt beim Rahmenabkommen mit der EU. Noch schalten die Gewerkschaften auf stur, doch neue Ideen sorgen für Dynamik im Dossier.
07.03.2019, 06:5818.03.2019, 09:47
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Wie kann die Schweiz ihre hohen Löhne schützen? Diese Frage ist ein Hauptstreitpunkt in der Debatte um das institutionelle Abkommen (InstA) mit der EU. Nachdem Aussenminister Ignazio Cassis im Juni 2018 in einem Interview erklärt hatte, die Schweiz müsse sich bei den flankierenden Massnahmen gegen Lohndumping bewegen, kam es zum Eklat.

Die Gewerkschaften schalteten in den Kampfmodus. Angeführt von Gewerkschaftsbund-Präsident Paul Rechsteiner liessen sie die von Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann angesetzten Gespräche mit den Sozialpartnern zum Lohnschutz platzen. «Es gibt nichts zu verhandeln», betonte Rechsteiner. Der Bundesrat müsse die von ihm selbst gesetzten «roten Linien» verteidigen.

Paul Rechsteiner, Praesident SGB, spricht an einer Medienkonferenz zum Rahmenvertrag Schweiz - EU und flankierender Massnahmen in Bern, Schweiz, Mittwoch, 8. August 2018. (KEYSTONE/Thomas Hodel)
Gewerkschaftsboss Paul Rechsteiner erklärte die flankierenden Massnahmen im letzten Sommer für nicht verhandelbar.Bild: KEYSTONE

Schneider-Ammann und Rechsteiner sind heute nicht mehr im Amt. Im Mai übernimmt Pierre-Yves Maillard das Präsidium des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds (SGB). Er hat sich in seinen 15 Jahren als Waadtländer SP-Regierungsrat von Linksaussen zum Pragmatiker gewandelt. Man traut ihm zu, dass er beim Lohnschutz flexibler sein wird als Rechsteiner.

Noch bleiben die Gewerkschaften stur, wie der Auftritt von SGB-Chefökonom Daniel Lampart am letzten Freitag in der «Arena» zeigte. Gleichzeitig ist beim Lohnschutz wie beim Rahmenabkommen als Ganzes in den letzten Tagen einiges in Bewegung geraten. Mehrere Gruppierungen und Organisationen haben Vorschläge präsentiert. Ein Überblick:

LiensEurope

Unter diesem Namen haben sich die «Europafreunde» in der SP – darunter die Nationalräte Eric Nussbaumer, Fabian Molina (ein ehemaliger Juso-Präsident) und Ständerat Daniel Jositsch – versammelt, um ein Gegengewicht zur Dominanz der Gewerkschaften im Europadossier zu bilden. Nun haben sie erstmals eigene Vorschläge für einen «verlässlichen» Lohnschutz präsentiert.

So fordern sie den Anschluss an die neue EU-Arbeitsbehörde ELA, die den Kampf gegen Lohndumping auf europäischer Ebene koordinieren soll. Weiter solle sich der Bundesrat für eine Übergangsfrist von fünf Jahren einsetzen. Es brauche mehr und effizientere Kontrollen sowie höhere Strafen bei Verstössen. Die Schweiz müsse auch die grenzüberschreitende Durchsetzbarkeit von Sanktionen verbessern und eine Haftung der Auftraggeber in Risikobranchen prüfen.

Arbeitgeber

Die Wirtschaft hat die flankierenden Massnahmen eher widerwillig akzeptiert. Sie waren der Preis für den Support von links für den bilateralen Weg. Nun hat der Schweizerische Arbeitgeberverband eigene Vorschläge erarbeitet, um die flankierenden Massnahmen im neuen InstA abzusichern. Es soll unter anderem «das duale, dezentrale Vollzugssystem der Schweiz» garantieren.

Das bestehende Vollzugsinstrumentarium soll weiterhin zugelassen und die Vorschläge der EU betreffend Voranmeldefrist oder Kautionspflicht sollen präzisiert werden. So schlagen die Arbeitgeber vor, dass die Kautionspflicht nicht erst nach einem Fehlverhalten, sondern als präventive Massnahme vorgesehen werden kann, was in etwa dem heutigen System entspräche.

Foraus

Die aussenpolitische Denkfabrik hat am Wochenende ein Papier zu den flankierenden Massnahmen veröffentlicht, mit dem sie einen «Ausweg aus der Sackgasse» aufzeigen will. Es umfasst zehn Punkte. Neben eher technischen Vorschlägen wie effizientere Computersysteme gehören dazu ein Ausbau der Solidarhaftung der Vertragspartner oder eine Verstärkung der Kontrollen auch bei Unternehmen, die kein aus der EU entsandtes Personal beschäftigen.

Damit könne sichergestellt werden, dass die Kontrollen nicht diskriminierend seien, schreiben die Foraus-Autoren. Interessant sind Vorschläge für eine Ausweitung des Geltungsbereichs der Gesamtarbeitsverträge (GAV) in «gefährdeten» Branchen wie Einzelhandel und Reinigung oder für mehr Normalarbeitsverträge in Sektoren ohne GAV. Sie entsprechen der neuen EU-Entsenderichtlinie, die den Grundsatz «gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort» durchsetzen will.

ZUR WINTERSESSION DER EIDGENOESSISCHEN RAETE VOM 28. NOVEMBER 2016 BIS ZUM 16. DEZEMBER 2016 STELLEN WIR IHNEN FOLGENDES BILDMATERIAL ZUR VERFUEGUNG - Ein Mitarbeiter einer Reinigungsfirma putzt die B ...
Für gefährdete Branchen wie Reinigung könnten die Gesamtarbeitsverträge ausgeweitet werden.Bild: KEYSTONE

Vorschlag Schmidt

Eine eigene Idee hat der frühere Stadtberner Finanzdirektor Alexandre Schmidt präsentiert, der als ehemaliger persönlicher Mitarbeiter der FDP-Bundesräte Kaspar Villiger und Hans-Rudolf Merz in Bundesbern bestens vernetzt ist. Er bezieht sich auf die umstrittene Voranmeldefrist für Firmen aus der Europäischen Union. Sie soll nach dem Vorschlag der EU von heute acht Kalendertagen auf vier Arbeitstage reduziert werden.

Schmidt will ihn als «Grundregel» übernehmen. In zwei «gewichtigen» Fällen sollen aber weiterhin acht Kalendertage gelten: Für erstmalige Anmeldungen sowie für Unternehmen, die gegen den Grundsatz «gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort» verstossen haben. Beim Bund sei man über die Idee «entzückt», hält Schmidt gegenüber watson fest.

Die Reaktionen

Das Sammelsurium an Ideen zeigt, dass beim Lohnschutz verschiedene Ansätze möglich sind. Sie betreffen sowohl die flankierenden Massnahmen sowie eine Stärkung auf innenpolitischer Ebene. Zumindest der zweite Punkt dürfte zu hitzigen Diskussionen führen. Von Seiten der Wirtschaft etwa ist Widerstand gegen eine GAV-Ausweitung oder mehr Normalarbeitsverträge absehbar.

Das Foraus-Team schlägt deshalb vor, dass der Bundesrat eine Konferenz mit den Sozialpartnern organisiert, um die Ursachen der Dumping-Probleme besser zu identifizieren und parallel Lösungen zu erarbeiten. Die Politik sendet erste positive Signale. Eine solche Konferenz sei «ein gut schweizerischer Weg», meint BDP-Präsident Martin Landolt.

Bundesrat Ignazio Cassis, rechts, und Staatssekretaer Roberto Balzaretti, am Ende einer Medienkonferenz, am Freitag, 7. Dezember 2018 in Bern. Der Bundesrat informierte ueber das Rahmenabkommen mit de ...
Aussenminister Cassis und Staatssekretär Roberto Balzaretti (l.) sollen das Gespräch mit der EU suchen.Bild: KEYSTONE

Auch von Gewerkschaftern sind freundliche Töne zu vernehmen. «Noch nie wurde in der Schweiz so viel über Lohnschutz geredet», freut sich der Berner SP-Nationalrat Corrado Pardini. Es sei positiv, dass die Debatte von der SP und nicht von den Rechtspopulisten bestimmt werde, betont das Mitglied der Unia-Geschäftsleitung: «Die SP ist die einzige Partei in der Schweiz, die einen starken Lohnschutz und eine starke Beziehung zur EU glaubwürdig und konsequent vertritt.»

Bundesrat muss nachbessern

Die neuen Ideen bezeichnet Pardini als «sehr gute sozial- und innenpolitische Vorschläge». Vorgängig sei aber der Bundesrat am Zug. Er müsse «seine Hausaufgaben machen» und in Brüssel Nachbesserungen beim Rahmenabkommen verlangen, damit eine tragfähige Lösung entstehe. Der vorliegende Entwurf sei in zu vielen Punkten unklar und garantiere den bisherigen Lohnschutz nicht.

In diesem Punkt trifft sich der Gewerkschafter mit den Kollegen von LiensEurope. Der Bundesrat müsse mit der EU beim Lohnschutz «zwingend noch einmal das Gespräch suchen und eine gemeinsame Lösung finden», schreiben die proeuropäischen Sozialdemokraten. Die sei «eine Voraussetzung für den Rückhalt eines solchen Abkommens durch die Schweizer Bevölkerung».

Besonders erfreut zeigt sich Pardini darüber, dass bei den jungen Leuten von Foraus oder Operation Libero das Verständnis für den Lohn- und Arbeitnehmendenschutz zunehme: «Der Dialog mit den Jungen über die Zukunft der Schweiz ist mir besonderes wichtig.» Noch im Januar hatte er in der SRF-«Rundschau» wenig Verständnis für die jungen «Euroturbos» gezeigt.

Überhaupt wirkt der scharfzüngige Berner im Gespräch nicht mehr so kompromisslos wie bei seinen bisherigen Auftritten, etwa in der «Arena». Dies zeigt, dass sich die Fronten beim Lohnschutz wie beim gesamten Rahmenabkommen aufzuweichen beginnen. Der Weg zu einer Lösung in dieser sensiblen Frage ist weit und alles andere als einfach. Aber unmöglich ist er nicht mehr.

EU-Gewerkschaftschef empfiehlt Nachverhandlungen
EU-Gewerkschaftschef Luca Visentini hat der Schweiz in einem Interview Nachverhandlungen zum Rahmenabkommen empfohlen. «Es ist kein gutes Abkommen.» Die EU wolle der Schweiz Lohnschutzmassnahmen verbieten, die sie «ihren Mitgliedstaaten ausdrücklich erlaubt».

Die EU verlange, dass die Schweiz das EU-Recht für entsandte Arbeiter übernehme und dafür Abstriche bei den eigenen flankierenden Massnahmen mache, sagte Luca Visentini, Generalsekretär des Europäischen Gewerkschaftsbunds, in einem Tamedia-Interview. «Bei einem Mitgliedsstaat wie Deutschland oder Schweden würde die EU-Kommission so etwas nie wagen.»

Das EU-Recht setze nur einen Minimalstandard. Zudem dürften die Mitgliedstaaten bessere Schutzmassnahmen für ihre einheimischen Arbeitnehmer erlassen. «Die EU hat nicht das Recht, sich einzumischen.» Die EU verstosse damit gegen ihr Entsenderecht.

Die EU lehnte bislang Nachverhandlungen strikt ab. Dazu sagte der europäische Gewerkschafter: «In der EU wird bald eine neue Kommission und ein neues Parlament im Amt sein. Nachverhandlungen müssten möglich sein.» (sda)

Wir erklären dir das institutionelle Rahmenabkommen

Video: Lea Senn, Angelina Graf
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52 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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dorfne
07.03.2019 07:57registriert Februar 2017
Der Arbeitgeberverband schlägt vor die Kautionspflicht wie sie heute ist beizuhalten? Obwohl diese gem. InstA nur noch für Firmen gelten soll, die schon mal bei Dumpinglöhnen erwischt wurden? Jaja und wenn das InstA unterschrieben ist, will man nichts mehr davon wissen. Irgendeine Ausrede wird einem schon einfallen.
Die selbstgesetzten "roten Linien" wurden vom Bundesrat ja auch leichtfertig überschritten. Und dann war man masslos empört, weil die Gewerkschaften über Dinge jenseits dieser roten Linie nicht diskutieren wollten. Da ist Misstrauen angesagt.
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satyros
07.03.2019 11:01registriert August 2014
Jetzt einfach nicht einknicken, liebe GenossInnen. Ein paar Leute haben glaub vergessen, dass es nicht der Job der SozialdemokratInnen ist, von allen geliebt zu werden. Die Schmeicheleien der Presse in den letzten 25 Jahren haben viele Sozis weich gemacht. Ihr Job ist es für die Büezer einzustehen, auch wenn man sich dabei in den Gegenwind begibt und vom vereinigten Bürgertum inkl. dessen "progressivem", urbanen Teil eins aufs Dach bekommt.
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dorfne
07.03.2019 08:00registriert Februar 2017
O.K. Unterschreibt das InstA und weitet die Kontrollen an den Arbeitsplätzen massiv aus um möglichst viele Ersttäter zu erwischen! Die müssen dann beim nächsten Arbeitseinsatz in der CH eine Kaution zahlen, damit im Wiederholungsfall die Busse abgedeckt ist.
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