Zurzeit sucht der ETH-Rat nach geeigneten Personen, um eine externe Untersuchung zu leiten. Sie sollen den jüngsten Anschuldigungen auf den Grund gehen, welche die renommierteste Schule des Landes betreffen. Die Physik-Professorin Ursula Keller wirft der ETH Zürich Korruption und Sexismus vor. Die Hochschule werde von inoffiziellen Koalitionen gelenkt, die sämtliche Macht auf sich vereinen würden – und diese missbrauchten. Ausserdem sei das Physikdepartement für Frauen ein Haifischbecken, sagte Keller in einem Interview mit dem Online-Magazin «Republik».
Mit den Aussagen sprang Keller ihrer Kollegin Marcella Carollo zur Seite. Die als «mobbende Professorin» bekannt gewordene Astronomie-Dozentin dürfte bald freigestellt werden, weil sie über Jahre Doktoranden schikaniert haben soll. Es wäre die erste Entlassung in der 164-jährigen Geschichte der ETH. Dagegen wehrt sich Carollo, die sich selbst als Opfer einer Intrige sieht. Der Fall sorgt seit Monaten für Schlagzeilen. Nun äussert sich Carollo zu den Vorwürfen ihre Kollegin Keller an die Hochschule. «Ich habe dieselben Bedenken wie sie», sagt Carollo. Wie die ETH Führungspositionen besetze, sei nicht transparent. Ausserdem würden Männer besser behandelt. «Für Frauen ist es deutlich schwieriger, eine Professorenstelle zu erhalten.»
Carollo bezweifelt, dass die angekündigte Untersuchung Klarheit schafft. Sie kritisiert, dass der ETH-Rat selbst die externen Personen aussucht, die den Korruptions-Vorwürfen auf den Grund gehen sollen. Echte Unabhängigkeit und eine faire Aufarbeitung seien so nur schwer möglich. Sie fordert deshalb: «Der Bund muss einschreiten.» Das Parlament solle die Untersuchung überwachen. «Wir haben an meinem Beispiel gesehen, wie voreingenommen die ETH sein kann.»
Über den Mobbing-Fall haben auch internationale Medien berichtet. Carollo sagt, sie habe viel Zuspruch von Professorinnen weltweit erhalten. Einige hätten mit ähnlichen Anschuldigungen zu kämpfen. Eine Kollegin aus Deutschland schrieb ihr: «Ich werde wie eine Kakerlake behandelt.» Carollo sieht ein generelles Problem: «Frauen werden bestraft, nicht für etwas, das sie getan haben, sondern weil eine Gruppe sie einfach nicht mag.»
Die Berichterstattung hat nun aber auch eine Gegenreaktion unter den ETH-Professorinnen ausgelöst. In einem Brief an den ETH-Rat und die Schulleitung, der dieser Zeitung vorliegt, stellen sich elf Professorinnen hinter die Hochschule. Angeführt von den Departementsvorsteherinnen Nina Buchmann (Umweltwissenschaften) und Viola Vogel (Gesundheitswissenschaften und Technologie) schreiben sie, dass sie eine andere Kultur erlebten als jene, die in der Presse dargestellt werde. Sie sprechen von einer Ermöglichungskultur. «Das wollen wir klar zum Ausdruck bringen», heisst es darin. Trotzdem müssten die Reformen weitergehen. «Für uns ist die Erhöhung des Frauenanteils in der Professorenschaft das dringendste Anliegen.»
Auslöser der nun monatelang schwelenden Krise an der Elite-Universität war eine Gruppe Doktoranden. Sie berichteten 2017, jahrelang von Professorin Carollo gemobbt worden zu sein. Sie habe Frauen aufgefordert, weniger Zeit für Make-up und mehr für die Forschung zu verwenden. Einem Doktoranden soll sie auf die Stirn getippt haben mit den Worten: «Das ist zu klein für die Inhaltsaufnahme.»
Die Fragen von CH Media beantwortet Carollo schriftlich, gemeinsam mit ihrem Anwalt. Sie weist die Anschuldigungen von sich. «Ich habe nie über die Gehirngrösse von jemandem gesprochen. Das stimmt einfach nicht.» Andere Vorkommnisse bestätigt sie hingegen. In ihren 15 Jahren an der ETH seien tatsächlich zwei Studenten in ihrem Büro in Tränen ausgebrochen. «Ich habe immer mit Sympathie und Ermutigung reagiert.» Die Tränen hätten nichts mit ihr zu tun gehabt. Es ginge jetzt darum, sie als Monster darzustellen.
Auch der neue ETH-Präsident, Joël Mesot, habe sie nie zu den Anschuldigungen befragt. «Wir haben uns nur einmal für 20 Minuten getroffen. Er teilte mir mit, dass ich entlassen werden soll.» Fragen habe er ihr keine gestellt. Die ETH schreibt, dass die Untersuchung damals bereits abgeschlossen war. Es sei Mesot ein Anliegen gewesen, ihr die Entscheidung persönlich mitzuteilen.
Wie es mit Carollo weitergeht, ist offen. Eine Entlassung durch den ETH-Rat ist wahrscheinlich. Und auch das Interview ihrer Kollegin Keller dürfte ein Nachspiel haben. Man müsse die Untersuchung abwarten, sagt Mesot. Allerdings fühlt sich die ETH-Spitze übergangen: «Das Interview beinhaltet massive, jedoch völlig unbelegte Vorwürfe», sagt Mesot. Für ihn sei das absolut inakzeptabel. «Das Ergebnis der Untersuchung wird Konsequenzen haben.»
Keller fürchtet nicht um ihre Stelle, wie sie auf Anfrage sagt. «Ich möchte der ETH helfen, obwohl ich zuerst schlechte Nachrichten mitteilen muss.» Bislang habe die Führung die Strategie verfolgt, Missstände unter den Teppich zu kehren. Wenn sich die ETH nicht reformiere, drohe ein rascher Abstieg aus den Top 10 der Hochschulen. Die dilettantische Behandlung des Falls Carollo, der gravierende strukturelle Probleme offenbare, wirke weltweit abschreckend, sagt sie. «Wir brauchen externe Hilfe, um all die Probleme zu beheben.» Die ETH könne damit wegweisend sein für viele Universitäten. (bzbasel.ch)