Es ist ein höchst fragwürdiges Formular, das vor wenigen Wochen im Briefkasten des Musiklehrers M. K.* liegt: Seine Schule, das Konservatorium Zürich, fordert in einem Schreiben die gesamte Fachschaft dazu auf, ein Formular mit unter anderem folgender Formulierung zu unterzeichnen:
In einem zweiten Punkt sollen sich die Lehrer verpflichten «die Verantwortlichen zu informieren» wenn sie Kenntnis davon haben, dass «die Unversehrtheit von Kindern gefährdet sei».
Das entsprechende Formular stammt von der Mira, einer privaten Vereinigung, die sexuelle Ausbeutung in Schule und Freizeit vorbeugen will. Das Konservatorium Zürich forderte alle seine Mitarbeitenden auf, das Papier zu unterzeichnen, um das Gütesiegel der Mira zu erlangen.
K. unterzeichnete das Papier wie viele seiner Kollegen nicht. «Die Schule ruft zur Jagd nach möglichen Pädophilen auf. Und wir stehen alle unter Generalverdacht. Das geht einfach zu weit.»
Er selbst habe das Formular nicht unterschrieben, viele andere auch nicht. «Wir unterschreiben keine Denunzierungs-Aufforderung», so K. Die Folge: Das Konservatorium erhält das Mira-Gütesiegel nicht.
Die Lehrer weigern sich zu Recht. Denn das Formular ist in doppelter Hinsicht fragwürdig: Zum einen hält das Mira-Papier einer juristischen Prüfung nicht stand. Niemand, der unter Verdacht steht, eine Straftat begangen zu haben, muss sich selbst belasten. Gemäss Artikel 32 der Bundesverfassung hat nämlich jeder Angeschuldigte das Recht, seine Aussage zu verweigern. «Ein solches Schweigen darf dem Beschuldigten nie negativ angelastet werden», sagt Rechtsanwalt und Strafrechtsexperte Ernst Reber. Der Vorwurf, nur wer etwas zu verbergen habe, mache von diesem Recht Gebrauch, sei völliger Unfug, so Reber.
Zum anderen ist die Vorgehensweise problematisch: «Das Konservatorium offenbart den Mitarbeitenden ein gewisses Misstrauen», sagt Ernst Reber. Der Aufruf zur Meldung verdächtiger Aktivitäten – so gut er auch gemeint sei – sorge in den seltensten Fällen für ein gutes Arbeitsklima. Ausserdem: Eine Wahl, das Formular zu unterschreiben, hätten die Mitarbeiter kaum. «Wer es nicht tut, macht sich ja in den Augen vieler per se schon verdächtig», so Reber.
Ausserdem manövriere sich die Mira mit dem Papier in eine fragwürdige Position: «Für die Untersuchung von Straftatbeständen sind grundsätzlich die Strafuntersuchungsbehörden zuständig», sagt Reber. Werde vorgeschlagen, im Verdachtsfall eine Fachstelle zu kontaktieren, vergehe unter Umständen (zu) viel Zeit, bis die Strafverfolgungsbehörde Kenntnis erhalte.
Genau das will die Mira aber: Sie fordert die Unterzeichnenden, sich bei den «Verantwortlichen unserer Organisation» zu melden – nicht bei den Strafuntersuchungsbehörden.
Die Mira geriet mit ihrem Vorgehen bereits 2011 in die Kritik. Ihr wurde vorgeworfen, von einem sexuellen Übergriff eines Lehrers in einem Kletterzentrum gewusst zu haben. Die Mira habe, ohne die Polizei einzuschalten, auf ein Konfrontationsgespräch – eine höchst umstrittene Interventionsstrategie – gesetzt.
Im aktuellen Fall weisen das Konservatorium sowie die Mira die Kritik zurück. Mira-Chefin Janine Graf bezeichnet es als «unausweichlich», dass Personen, welche den begründeten Verdacht der sexuellen Ausbeutung hegen, zur Klärung beitragen würden, so Graf.
Cristina Hospenthal, Direktorin des Konservatoriums, beteuert, dass die Schule nicht die Absicht hätte, mit dem Formular auf Lehrpersonen «loszugehen». Es solle lediglich zeigen, dass sich die Institution mit dem Thema der sexuellen Ausbeutung befasse und sich um das Gütesiegel der Mira bemühe.
Dass sie bereit ist, für dieses Gütesiegel über Paragraphen-Leichen zu gehen, erscheint ihr unproblematisch. Die Formulierung sei zwar «hart», aber im Sinne der Unterzeichnenden. Hospenthal: «Wird eine Person zu Unrecht beschuldigt, tut sie ja gut daran, sich zu den Mira-Punkten zu erkennen. Das stärkt ihre Glaubwürdigkeit.»
* Name geändert