Die Tür zum Tatort ist verschlossen. Nur ein Zettel mit dem Aufdruck «Amtlich versiegelt» erinnert am Mittwoch am Eingang zur Filiale der Krankenversicherung CSS in der Schaffhauser Vorstadt an die Schreckenstat. Am Montag gegen 10.30 Uhr ging ein 51-jähriger Kunde der Versicherung durch die Tür und verletzte zwei Mitarbeiter mit einer Kettensäge. Am Tag eins nach der Verhaftung des mutmasslichen Täters trällert Popmusik aus dem benachbarten Coiffeur-Salon. Demonstrative Normalität.
Spektakulärer geht es im kantonalen Berufsbildungszentrum zu und her. Zivilschützer weisen den Weg zur Pressekonferenz, ein Teil des Pausenplatzes ist mit einem rot-weissen Band abgetrennt, auf dem «Sperrzone» steht. Eine Sperrzone gibt es freilich keine, dafür wird das Band später als Kulisse für eine Schaltung des deutschen TV-Senders RTL dienen. Ein Zivilschützer scherzt, man habe überlegt, eine Kettensäge als Anschauungsmaterial mitzubringen. Nach zwei Tagen Angst in Schaffhausen ist der Humor zurückgekehrt, wenn auch auf trockene Art.
Der Kettensägen-Mann hat den kleinen Kanton an der Grenze zu Deutschland vor eine schwierige Aufgabe gestellt. Dabei hält sich der Schaden einigermassen in Grenzen. Von den zwei körperlich Versehrten konnte einer das Spital wieder verlassen. Zwei Kunden stehen weiterhin unter Schock. Der mutmassliche Täter hat sich am Dienstagabend «anständig und kooperativ» in Thalwil am Zürichsee verhaften lassen, heisst es.
Es ist die Kettensäge, welche dem lokalen Ereignis in der Schaffhauser Altstadt zu weltweiter Aufmerksamkeit verhalf und die Bevölkerung in Angst versetzte. Die Kettensäge ist zwar für Gewalttaten eher ungeeignet, weil ineffizient, aber sie ist spektakulär und angsteinflössend, auch wegen ihrer Karriere in Horrorfilmen. Kommt hinzu, dass der Verdächtige mehr als 30 Stunden lang auf der Flucht war.
Das Interesse der Medien war so gross, dass die Medienstelle der Schaffhauser Polizei den Zivilschutz um Unterstützung bat. Am Montag vibrierten darum die Handys von sieben Angehörigen der «Raschen Einsatzformation Medienunterstützung», eine Besonderheit des Schaffhauser Zivilschutzes.
Die Zivilschützer bauten die Bühne, auf der Polizei und Staatsanwaltschaft endlich gute Nachrichten verbreiten konnten. Dutzende TV-Kameras sind auf den Ermittlungsleiter, den Staatsanwalt und die Polizeisprecherin gerichtet. An der Wand macht ein Plakat auf die drahtlose Internetverbindung aufmerksam. Benutzername: Notfall. Es funktionierte alles perfekt.
Das war am Montag noch ganz anders. Nachdem um 10.39 Uhr der Notruf in der Zentrale einging, dachten die Behörden zunächst an einen Amoklauf. Die entsprechend hochgerüsteten Polizisten eilten zum Tatort und verhafteten einen unbeteiligten älteren Mann derart brutal, dass dieser im Spital behandelt werden musste. Mittlerweile habe man sich beim Betroffenen mit einer Packung Schaffhauser Zünglein (ein lokales Gebäck) entschuldigt, wie am Rande der Pressekonferenz zu erfahren war. Der Beschenkte verzichtet auf eine Anzeige.Als Nächstes nahmen Hunde die Fährte auf. Sie führten die Polizisten ans Ufer des Rheins, wo sich die Spur verlor. Im Wald bei Uhwiesen fand man zwar sein Auto, aber nicht den Gesuchten.
Schliesslich bat man die Bevölkerung um Mithilfe. Fahndungsfotos zeigten einen verwahrlost wirkenden Mann, der mit einem verdächtigen Plastiksack unterwegs war. Mehrere Dutzend Hinweise gingen ein. Offenbar waren viele Falschmeldungen darunter. Während sich der Täter am Zürichsee aufhielt, stand die Polizei in Schaffhausen, im Zürcher Weinland und im thurgauischen Diessenhofen mit insgesamt über 300 Beamten im Einsatz.
Dann kamen Meldungen aus Thalwil. Der Betreiber einer Pizzeria will gemäss «Blick» den entscheidenden Hinweis gegeben haben. Um 18.50 Uhr verhafteten die Zürcher Kollegen den Kettensägen-Mann schliesslich an der Gotthardstrasse in Thalwil. Die Kettensäge ist verschwunden, dafür trug er zwei gespannte Armbrüste mit eingesetzten Pfeilen und zwei weitere angespitzte Holzstücke bei sich.
Kurz vor Mitternacht wurde der Tatverdächtige nach Schaffhausen überstellt. Noch am Mittwoch fand die erste Befragung statt, über welche die Schaffhauser Behörden heute informieren wollen. Unmittelbar nach der Verhaftung habe man den offenbar psychisch angeschlagenen Mann nur nach seiner Gesundheit, nicht aber nach der Tat befragt, sagte Staatsanwalt Peter Sticher. Man achte strikt darauf, dass die Rechte des mutmasslichen Täters gewahrt werden, etwa das Recht auf den Beistand eines Verteidigers. Auf viele Fragen gab es deshalb keine Antwort. Wie konnte der Täter trotz Grossfahndung die 60 Kilometer von Schaffhausen nach Thalwil zurücklegen? Warum konnte der zweifach vorbestrafte und auffällige Mann unbehelligt in einem Waldstück hausen? Woher kam der Hass des Kunden auf seine Versicherung? Was wollte der Kettensägen-Mann in Thalwil?