«Wollen wir nicht einfach ein langes Interview mit Alain Berset führen, einer Schlüsselfigur dieses ausserordentlichen Ereignisses?» – diesen Vorschlag machte Felix E. Müller, ehemaliger Chefredaktor der «NZZ am Sonntag». Lakonisch schreibt er dazu in der Zeitung: «Wer Ideen äussert, muss mit den Folgen leben.»
Müller traf sich daraufhin fünf Mal mit dem Bundesrat im Zeitraum zwischen dem 20. August und 11. November 2020 in Bern. Es seien längere Interviews gewesen, bei denen Bersets Sprecher Peter Lauener mit dabei war. Aus dem Material entstand das vorliegende Buch. Wir haben es für euch gelesen und die spannendsten Antworten zusammengefasst.
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Spannend sind die Seiten, auf denen Müller dem Bundesrat ganz persönliche Fragen stellt. Berset gibt zwar Persönliches nur mit grosser Zurückhaltung preis – dennoch gelingt es Müller, ein paar wenige Einblicke in Bersets Privatleben zu schaffen. So erzählt der Gesundheitsminister, wie sein Arbeitsalltag zu Beginn der Krise aussah.
Von Ende Februar bis Anfang April fuhr Berset nie nach Hause in den Kanton Fribourg, sondern wohnte ausschliesslich in Bern. Mit seiner Familie telefonierte er täglich. Politische Fragen habe er mit seiner Frau nie diskutiert, so der Gesundheitsminister.
Berset erzählt auch vom Druck, den er während der Pandemie erlebte. Er spricht von Nächten, in denen er geweckt wurde, weil «etwas Wichtiges» vorgefallen war – und dass er sich zur Erholung einige nächtliche Spaziergänge gönnte. Eindrücklich ist seine Antwort zur generellen Arbeitsbelastung.
Zu Beginn der Krise wurde der Gesamtbundesrat wegen seiner zögerlichen Haltung zu Schulschliessungen kritisiert. Berset sagt im Buch, dass es «Unstimmigkeiten» gegeben habe. Er selbst habe die Schulen offen lassen wollen – die Reaktionen aus dem Tessin bewogen ihn zu einer Meinungsänderung. Er spricht von einer «Korrektur» bzw. einem «Fehler».
Auch die Maskenfrage kommt zu Wort. Berset widerspricht da der landläufigen Interpretation, das Bundesamt für Gesundheit (BAG) habe wegen knapper Maskenanzahl auf eine Tragepflicht verzichtet. Es seien auch wissenschaftliche und praktische Gründe gewesen: «Eine Maskenpflicht anordnen, wenn die meisten Institutionen geschlossen sind, Schulen, öffentlicher Verkehr, Restaurants, Läden, Kino?», sagt Berset.
Die Diskussion rund um die Fax-Mitteilungen beim BAG wird ebenfalls retrospektiv diskutiert. Berset sagt, dass das Problem in der Schweiz «viel grundsätzlicher» sei. Er spricht von einem «atomisierten» Gesundheitssystem, das noch nach analogen Gewohnheiten funktionierte. Eine Folge der Corona-Krise sei nun, dass das «BAG künftig den Fax nicht mehr akzeptieren wird.»
Bundesrat Alain Berset äussert sich im Buch auch zu seiner politischen Überzeugung und seiner Vorstellung von Macht. So erzählt er, wie er zu Beginn der Corona-Pandemie von Westschweizer Politikerinnen und Politikern dazu gedrängt wurde, eine Ausgangssperre zu beschliessen. Berset sagt mehrmals, dass das seinen eigenen Prinzipien fundamental widerspreche.
Seiner Ansicht nach sollten die Menschen so leben können, wie sie das möchten. Die Ausgangssperre lehnte er zwar ab, das Verbot von Grossveranstaltungen brachte er aber trotzdem contre coeur im Bundesrat ein. «Das war schwierig, aber notwendig», sagt Berset dazu.
Berset spricht auch über die Arbeit im Gesamtbundesrat – insbesondere auch über seinen Kollegen Ueli Maurer, der sich kritisch zu den Corona-Massnahmen äusserte. Rüffel oder Gegenkritik hört man dazu nicht. Stattdessen sagt der Interviewte: «Es braucht Meinungsvielfalt, um gute Entscheide zu finden. Das zwingt alle Bundesratsmitglieder dazu, ihre Argumente zu überprüfen. Ich bin froh darüber.» Geärgert hat ihn was anderes: Die Indiskretionen. Diese hätten sich ab Ostern verschlimmert.
Die oben genannten Einblicke geben jeder politisch interessierten Person spannende Einblicke, wie ein Bundesrat während einer Pandemie denkt und fühlt. Berset funktioniert. Der Autor Felix E. Müller übertreibt deshalb nicht, wenn er über den Gesundheitsminister schreibt: «Krise kann er. Vermutlich solche jeder Art.»
Man vermisst einzig noch persönlichere Einblicke in Bersets Gemüt. Er erwähnt mehrmals, wie sehr die Krise ihm an die psychische Substanz ging – doch Berset funktionierte. Und wenn man funktionieren muss, dann bleibt kein Raum für Selbstzweifel und Ängste. Vor allem jetzt nicht, wo kurz vor Weihnachten sich die Pandemie wieder verschlimmert. Es stellt sich deshalb die Frage, ob Felix E. Müllers Buch über Bersets Pandemie-Erfahrung zu früh kommt.
Sicher ist, dass die fünf Interviews, aufgesplittet in zwölf Themengebiete, der Leserin und dem Leser einen institutionellen Erlebnisbericht eines Bundesrats geben. Die Antworten im Gespräch zwischen Berset und Müller geben Bürgerinnen, Politikern und Interessierten einen Einblick, wo die Fehler und Hürden in der Pandemiebekämpfung der vergangenen Monate waren. Es sind wichtige Erkenntnisse, wenn es um die nächsten Wochen und Monate geht, wo Corona weiterhin beschäftigen wird.
Das Buch «Wie ich die Krise erlebe» von Felix E. Müller erschien am 9. Dezember im Verlag NZZ Libro.
Warum dieses voyeuristische Bedürfnis ins Innenleben eines Menschen. Willst du ihn den politischen Gegnern und der Journallie mir den Grossbuchstaben und den Zahlen zum Frass vorwerfen?
Stellt euch mal diese Belastung vor, gerade auch für seine Partnerin und Kinder.
Nun hoffe ich für ihn, dass er da möglichst bald wieder runter und raus kommen kann. Bzw. ein gutes Care Team hat für sich und sein Umfeld, seine Familie.
Ich war selbst viele Jahre in einer Krise tätig und „konnte es“, funktionierte einfach.
Wenn‘s dann knallt raffst du erst mal gar nicht wieso.
Häb Sorg Alain!
Freue mich auf weitere entspannte Pianostücke im Spirale oder Equilibre ;-)