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Karriere und Familie: Eine Pionierin auf der Überholspur

Hier setzt Fabia Gozzo eine Probe des kristallinen Pulvers ein. Später wird ein Röntgenstrahl ähnlich einem Laser darauf geschossen. Das Streumuster des Lichts gibt ihr Auskunft über die Struktur der  ...
Hier setzt Fabia Gozzo eine Probe des kristallinen Pulvers ein. Später wird ein Röntgenstrahl ähnlich einem Laser darauf geschossen. Das Streumuster des Lichts gibt ihr Auskunft über die Struktur der Probe. bild: ch media

Karriere und Familie: Eine Pionierin auf der Überholspur

Fabia Gozzo war eine der ersten Frauen, die am Synchrotron-Teilchenbeschleuniger in Villigen arbeitete. 2012 gab sie ihren sicheren Job am Paul Scherrer Institut auf und stürzte sich ins Abenteuer Selbstständigkeit. Heute beschäftigt sie vier Mitarbeiter und arbeitet für Pharmamultis wie Novartis. Sie ist Mutter von drei Kindern und mit einem Mann verheiratet, der ebenfalls Karriere machte.
18.12.2019, 07:58
Sébastian Lavoyer / ch media
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Man ahnt nicht, wie hart diese zierliche Frau sein kann, wenn sie einem die Hand entgegenstreckt und mit einem herzlichen «Welcome to Paul Scherrer Institute» begrüsst. Der leichte italienische Akzent in ihrem Englisch, die Lachfalten um Augen und Mund, die unbändigen Locken – Fabia Gozzo wirkt herzhaft, freundlich und aufgeweckt.

Aber doch nicht hart? Die Härte – insbesondere gegenüber sich selbst –, man spürt sie erst heraus, wenn man sich länger mit ihr unterhält. Wenn sie Dinge sagt wie: «Ich wurde oft gefragt, wie ich all das geschafft habe mit drei Kindern. Meine Antwort: In dem ich arbeitete, wann immer ich konnte. Morgens um fünf Uhr oder mitten in der Nacht, am Samstag oder am Sonntag, immer.»

Sie half beim Aufbau eines Synchrotrons

Ihre Eltern verlor die Süditalienerin früh. Rasch lernte sie, sich allein durchzuschlagen. In Bari studierte sie Physik, in Lausanne doktorierte sie an der EPFL, kommt erstmals mit einem Synchrotron in Berührung. Ihre Doktorarbeit öffnete ihr das Tor in die USA, wo sie am National Laboratory in Berkeley, Kalifornien, an einem Projekt für Mikrochip-Hersteller Intel mitarbeitete.

Sie half dabei, feinste Verschmutzungen der Chips festzustellen. Als sie 1998 dem Ruf des Paul Scherrer Instituts folgend in die Schweiz zurückkehrte, sollte sie beim Aufbau eines Synchrotrons der neusten Generation helfen. Von Beginn an arbeitete sie an der Schnittstelle zwischen Forschung und Industrie. Insbesondere für die Pharmaindustrie sollte das laserartige Licht ungeahnte Möglichkeiten bieten.

Gozzo war eine der ersten Wissenschaftlerinnen am PSI-Synchrotron. «Unterdessen gibt es viel mehr Frauen hier, auch Mütter», sagt die Pionierin und lacht zufrieden, «es war aber auch Zeit, dass sich das ändert.» Sie selbst bekam ihre erste Tochter zu jener Zeit, als sie frisch in die Schweiz kam. Zwei Jahre später folgte ein Sohn, noch einmal viereinhalb Jahre später die zweite Tochter. Zugleich arbeitete ihr Mann als Biochemiker bei einem Pharma-Unternehmen in Basel. Wie ging das, Partnerschaft und Familie, Karriere und Kinder? «Wir waren furchtbar organisiert», so Gozzo.

Gozzo: «Mit acht Jahren konnte meine Tochter kochen»

Es war ein Puzzle aus Geschäftsreisen und Arbeitszeiten ihres Mannes, Kinderhort, Verfügbarkeit der Babysitterin, Schule und Zeit für die Experimente mit dem gebündelten Licht. Sie wohnten in Brugg, nahe des Teilchenbeschleunigers, damit Fabia Gozzo flexibel arbeiten konnte. Zu fast jeder Tages- und Nachtzeit, wann immer sich ein Fenster öffnete.

Wurde eines der Kinder krank, geriet das labile Gleichgewicht aus der Balance. Improvisation war nötig. Entweder sprangen die in Lausanne wohnhaften Eltern ihres Mannes ein oder eine der Notfall-Babysitterinnen des Roten Kreuzes. Oder sie mussten selbst schauen.

Nur einen Fixstern gab es: den Mittwoch. Da kam die Babysitterin, schaute zu den Kindern. «Ich habe alle wichtigen Experimente auf diesen Tag gelegt», so Gozzo.

Natürlich kam sie immer wieder an ihre Grenzen. Doch sie sagt: «Ich wäre keine so gute Mutter gewesen – wie ich glaube, dass ich eine war –, wenn ich nicht gearbeitet hätte. Denn ich liebe meine Arbeit.» Deshalb war sie nicht nur extrem fordernd sich selbst gegenüber, sondern auch gegenüber ihren Kindern.

Ihr Mann ist Vize-Präsident einer Pharma-Firma

Weil sie nichts von Fertig-Food hält, hat sie an den Wochenenden jeweils vorgekocht. Mit Saucen und Gemüse im Tiefkühler war es für die älteste Tochter keine grosse Sache mehr, Pasta zu kochen und die Zutaten aufzuwärmen.

«Mit acht Jahren konnte sie einfache Dinge selbst kochen», sagt Gozzo stolz. Ihr Ziel: Sie wollte ihre Kinder zu Selbstständigkeit erziehen. Trotz Putzfrau hiess das für die Kinder: «Wenn du ein Chaos im Zimmer hast, musst du selber putzen.»

Das durchgetaktete Leben geriet 2012 aus den Fugen. Ihr Mann, ein Biochemie-Ingenieur, bekam ein hervorragendes Jobangebot aus Brüssel, als Vize-Präsident einer Pharma-Firma. «Wir haben lange diskutiert. Denn es gab keine Notwendigkeit, etwas zu verändern. Aber wir beide hatten Lust auf eine neue Herausforderung», erinnert sich Gozzo.

Start-up in Brüssel

Ihr Mann begann beim neuen Unternehmen, sie selbst wagte zugleich den Schritt in die Selbstständigkeit. Obwohl sie in einer Übergangsphase weiter zu 50 Prozent am PSI hätte arbeiten können. «Aber ich funktioniere nicht so. Ich glaube, ich brauchte den ganz grossen Druck, um schneller herauszufinden, ob meine Idee funktioniert oder nicht.»

Also gründete sie in Brüssel ihr Start-up, die Excelsus Structural Solutions. Stark vereinfacht bietet sie Folgendes an: Mit Hilfe der Synchrotron-Strahlen untersucht ihre Firma organische Moleküle aus Pharmazeutika auf Verunreinigungen.

Was ist ein Synchrotron? Und wozu dient er Fabia Gozzo und ihrem Team?
Ein Synchrotron ist ein Teilchenbeschleuniger ähnlich dem CERN in Genf. Während in Genf jedoch unterschiedlichste Elementar-Teilchen aufeinander geschossen werden und die Wissenschaftler untersuchen was bei den Kollisionen passiert, werden in Villigen einzig Elektronen beschleunigt. Sie erreichen auf der 288 Meter langen Rundbahn annähernd Lichtgeschwindigkeit. Synchrotronstrahlung entsteht nun, weil elektrisch geladene Teilchen Licht emmitieren, wenn sie sich auf einer gekrümmten Bahn bewegen. Speziell an dieser Strahlung: Sie ist hoch konzentriert und gebündelt, ähnlich wie ein Laser. Bei der Pulverdiffraktion, die Fabia Gozzo und ihre Mitarbeiter zur Analyse der Pharmazeutika anwenden, wird ein Röntgenstrahl auf ein kristallines Pulver geschossen. Anhand des Streumusters des Lichts kann die Struktur der untersuchten molekularen Substanz bestimmt werden – und zwar nicht nur die vorhandenen Atome, sondern auch deren Anordnung.

Es handelt sich dabei um die gleichen Atome wie beim gewünschten Molekül, bloss dass sie anders im Raum angeordnet sind (Polymorphismus). Was nach einer Nichtigkeit tönt, kann schwerwiegende Folgen haben. Beispielsweise in Bezug auf die Wasserlöslichkeit einer molekularen Substanz. Es kann passieren, dass ein Medikament vom Körper nicht rechtzeitig aufgenommen werden kann.

Sie will wachsen, aber die Fachkräfte sind schwer zu finden

Fabia Gozzo lebte in Brüssel, machte ihre Experimente aber nach wie vor in Villigen. Sie fing alleine an, mit einem einzigen Kunden. «Da erkannte ich das Potenzial, ich musste einfach sicherstellen, dass die Unternehmen von dieser Möglichkeit erfahren», erinnert sie sich. Heute lebt sie mit ihrer Familie wieder in der Schweiz – nicht mehr in Brugg, sondern in Lausanne.

Die beiden ältesten Kinder studieren, sie hat vier Angestellte, zählt Pharmamultis wie Novartis oder Johnson&Johnson zu ihren Kunden und wurde im Sommer vom internationalen Netzwerk «Global Women Inventors & Innovators» gleich mit zwei Awards ausgezeichnet.

Laut eigenen Angaben ist ihr Unternehmen seit der Gründung 2012 um den Faktor 20 gewachsen. «Die Frage ist nicht, ob wir weiter wachsen, sondern wie», sagt die Chefin von Excelsus Structural Solutions.

«Ich bin ein strenger Boss»

Denn Leute zu finden und einzuarbeiten in ihre hoch spezialisierte Tätigkeit, ist eine Herausforderung und kostet ziemlich viel Energie. Fabia Gozzo sagt: «Ich bin ein strenger Boss, ich verlange viel von meinen Mitarbeitern. Aber ich teile auch und gebe mein Wissen weiter.»

Längst sitzen wir vor der Kantine neben dem Synchrotron. «Als ich das erste Mal hierher kam, standen wir mitten im Wald, umgeben von nichts als Bäumen. Rafael Abela, der den Bau des Synchrotrons verantwortete, zeigte uns, wo der Beschleuniger sein wird, wo die einzelnen Strahllinien-Labors», erinnert sie sich und lacht.

Ihr Wissen und ihr Wille haben Sie zur erfolgreichen Unternehmensgründerin gemacht. Dafür hat sie auf Vieles verzichtet. Auch auf Schlaf. Wobei: «Ich war noch nie eine gute Schläferin, das war auch ein Vorteil. Man muss einfach immer das Positive sehen.» (sel) (aargauerzeitung.ch)

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