32. Die farbigen Magnet-Zahlen prangen am Kühlschrank der heruntergekommenen Sozialwohnung irgendwo im Zürcher Oberland. Zigarettendunst hängt wie Nebelschwaden in der engen Küche, der Aschenbecher quillt über. Rauchen ist jetzt das Einzige, das hilft. Und Mia. Ohne ihre Tochter würde Sandrine das nicht schaffen. Seit 32 Tagen ist sie clean und die Magnet-Zahlen am Kühlschrank das Zeugnis ihres Entzugs.
Doch im Dorf trifft Sandrine auf ihren alten Junkie-Kumpel Serge und die Sucht hämmert sich unerbittlich zurück in ihren Kopf, schaltet alles andere still, ist so ohrenbetäubend laut, dass nichts anderes mehr Platz hat da drin als: der nächste Schuss. Selbst das Betteln und Weinen der Tochter bringt sie nicht davon ab, abzudrücken. Wütend wischt Mia zu Hause die 32 vom Kühlschrank und setzt die Zahl 0: «Wir machen morgen weiter.»
Nach dem Totalabsturz der Mutter ziehen sie in ein Kaff, um dort nochmals ganz von vorne anzufangen. Sandrine («Wilder»-Star Sarah Spale) hat es ihrer 11-jährigen Tochter Mia (die Neuentdeckung Luna Mwezi) versprochen. Ab jetzt wird alles anders.
Doch das neue Glück ist fragil und die Idylle von kurzer Dauer. Denn die Geschichte von Mutter und Tochter behandelt auch eines der düstersten Kapitel der Stadt Zürich.
Ab 1986 treffen sich auf dem Platzspitz hinter dem Landesmuseum täglich bis zu 3000 Heroinsüchtige. Junkies aus dem In- und Ausland reisen nach Zürich und geben sich dem Rausch hin. Der «Needle-Park» ist die grösste offene Drogenszene Europas.
Ein erster Räumungsversuch der Stadt scheitert. Die Szene verlagert sich lediglich. Anstatt im Park siechen sie jetzt ein paar hundert Meter flussabwärts beim alten Bahnhof auf dem Lettenareal vor sich hin. Die endgültige Schliessung der offenen Drogenszene gelingt erst im Frühling 1995: Hundertschaften mit Polizisten verjagen die Junkies. Wer nicht aus Zürich ist, wird der Heimatgemeinde übergeben. Und dort, nun fernab der Öffentlichkeit, in irgendwelchen Dörfern, das Elend unsichtbar hinter verschlossenen Türen, geht der Horror weiter.
Während der erste Teil dieser Katastrophe weitgehend bekannt ist, mit Fotos dokumentiert, in Artikeln nacherzählt, weiss man wenig darüber, was nach der Platzspitz-Räumung mit den Süchtigen passierte. Und vor allem: Welcher Hölle ihre Kinder ausgeliefert waren. Denn von ihnen gab und gibt es noch immer tausende. Kinder, ihren süchtigen Eltern ausgesetzt, verprügelt, vernachlässigt, allein ihrem Schicksal überlassen.
Regisseur Pierre Monnard (bekannt vom Schweizer Krimi-Erfolg «Wilder») reisst mit seinem Film eine Mauer nieder, die wohl so manch ein Sozialarbeiter, Polizist, Nachbar oder Arzt lieber stehen gelassen hätte. Diesem Abriss zuzusehen, ist eine Wucht.
Inspiriert ist das Drehbuch (geschrieben von André Küttel) durch die gleichnamige Autobiografie von Michelle Halbheer. Aus den Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend als Tochter einer Junkie-Mutter wurde 2013 ein Bestseller. Im Buch beschreibt sie das Leiden, die Prügel, den Gestank: «Ich will wegrennen, ich will flüchten, doch Panik und Entsetzen halten mich fest. Als ich Mutter entdecke, ist sie ohne Bewusstsein, im abgebundenen Arm steckt die Spritze, Fingerspitzen und Lippen sind bläulich verfärbt. Wie eine kaputte Puppe liegt sie vor mir, die Kleidung schmutzig, der wilde Haarschopf ungekämmt, die Augen sind verdreht und halb geschlossen. Ich halte sie für tot.»
Im Film bringen die zwei Hauptdarstellerinnen diesen Schmerz so authentisch auf die Leinwand, dass es kaum auszuhalten ist, dieser sich immer weiterdrehenden Abwärtsspirale zuzusehen.
Und Mia, dieses bildhübsche, todtraurige Kind in die Arme nehmen, sie weit wegbringen, in Sicherheit vor der selbstzerstörerischen Furie von Mutter.
Sandrine, ausgemergelt, von der Drogensucht gezeichnet, Mia in der neuen Schule als Junkie-Tochter gehänselt. Die Nachbarn strafen die Zugezogenen mit bösen Blicken und auch die Sozialarbeiterin weiss nicht recht, was sie mit ihnen anfangen soll. So sehr die Mutter für das Glück ihrer Tochter kämpft, so hilflos ist sie den Drogen ausgeliefert. Von diesem inneren Ringen zerfressen, katapultiert sie Mia von einer Katastrophe in die nächste. Auf jede Annäherung erfolgt eine herbe Enttäuschung. Platz zum Kindsein gibt es kaum.
«Ich bin immer no da», singt Mia am Schluss des Films bei der Schulaufführung und steht ganz allein auf der Bühne. «Und solang ich zu mir stahn und sich d’Wält no dräiht, denn gib ich nöd uf.» Mit feuchten Augen und völlig aufgekratzt verlässt man das Kino, tritt zurück in diese akkurat geputzten Schweizer Strassen, sieht die aufgeräumten Balkons, die farbgetrennten Flaschenentsorgungsstellen, die schön Frisierten, perfekt Geschminkten, und denkt an die Abgründe, die hinter dieser Idylle verborgen liegen.
Gut, hat sie jemand auf die Leinwand gebracht.
Platzspitzbaby läuft ab dem 16. Januar im Kino.
Als ich irgendwann 1993 oder 1994 den Bruder meiner damaligen Freundin am Letten suchte, glaubte ich, in der Dämmerung ein Kind zwischen den „Geistern“ erkennen zu können. Das verzerrte Bild und der Selbstvorwurf, nichts getan zu haben, liess mich nie mehr los.
Und trotzdem konnte man ihnen nicht böse sein, weil man ja wusste was dieses Gift bewirkte.
Ich weiss noch nicht, ob ich mir den Film anschauen werde. Viele mir bekannten, guten und sensiblen Menschen sind daran zugrunde gegangen.
Es war auch eine tödliche Epidemie. Insbesondere die lange Verzögerung der Gratisspritzen hat viele, vermutlich tausende AIDS-Todesopfer erzeugt. Falsche Politik. Die Heroinabgabe war und ist richtig.