Boykotte werden in der Schweizer Politik salonfähig. Anfang Jahr verweigerte der Bauernverband die Teilnahme am Mercosur-Gipfel von Bundesrat Johann Schneider-Ammann, aus Protest gegen dessen Landwirtschaftspolitik. Nun ziehen die Gewerkschaften nach. Sie wollen nicht mit dem Wirtschaftsminister über die flankierenden Massnahmen gegen Lohndumping sprechen.
Eine solche Haltung ist eigentlich zutiefst unschweizerisch. Sie passt nicht zur politischen Kultur eines Landes, in der man im konstruktiven Gespräch nach mehrheitsfähigen Lösungen sucht.
Zumindest aber bleiben sich die Gewerkschaften selber treu. Seit klar ist, dass der Bundesrat in den Verhandlungen über ein institutionelles Rahmenabkommen mit der EU seine «roten Linien» bei den flankierenden Massnahmen aufweichen muss, befinden sie sich im Abwehrkampf.
An der Medienkonferenz am Mittwoch bekräftigten sie ihre Totalopposition, angeführt von Gewerkschaftsbunds-Präsident Paul Rechsteiner. Mit ihrer sturen Neinsager-Mentalität erinnerten sie an die SVP. Vorwürfe an die FDP-Bundesräte, sie betrieben beim Lohnschutz «Verrat an den Arbeitnehmenden», sind Linksblocherismus. Niemand stellt den Lohnschutz ernsthaft in Frage.
Es stimmt, das Lohnniveau in der Schweiz ist hoch, ebenso die Kaufkraft. Die Gewerkschaften aber müssen sich die Frage gefallen lassen, was mehr dazu beiträgt: Ein verbissenes Festhalten an den flankierenden Massnahmen in ihrer heutigen Form? Oder ein geregelter, durch einen institutionellen Rahmen abgesicherter Zugang zu unserem mit Abstand wichtigsten Absatzmarkt?
Die hohen Schweizer Löhne werden nicht auf den hiesigen Baustellen erwirtschaftet. Sondern durch den Export von Produkten und Dienstleistungen ins Ausland. Von dort stammt das Geld, das auch den binnenorientierten Branchen und Firmen zugute kommt. Das wissen die Gewerkschaften genau, trotzdem gefährden sie dieses Erfolgsmodell.
Was ist der Grund für dieses Blockadedenken? Zum einen sind die flankierenden Massnahmen für die Arbeitnehmervertreter eine echte und lieb gewonnene Errungenschaft. Weil die SVP sich in der Europapolitik im Réduit verbunkert hat, mussten die bürgerliche Mitte und die Wirtschaft der Linken zähneknirschend Dinge zugestehen, von denen sie früher nicht zu träumen wagte.
Ein anderes Motiv, über das SP und Gewerkschaften nicht gerne reden, dürfte Angst sein. Und zwar nicht unbedingt vor einem «Verlust» der flankierenden Massnahmen. Sie fürchten sich davor, im Kampf gegen ein Rahmenabkommen mit der SVP ins «Lotterbett» steigen zu müssen. Fast noch grösser ist die Gefahr, dass die eigene Basis ihnen die Gefolgschaft verweigert.
Dafür gibt es einen Präzedenzfall: Bei der EWR-Abstimmung 1992 gingen die Grünen mit ihrem «ökologischen Nein» vollkommen unter. Sie wurden von der Blocher-Dampfwalze platt gemacht und vom eigenen Anhang im Stich gelassen, der mehrheitlich Ja zum EWR sagte.
Eine Wiederholung ist durchaus möglich. Die SP-Wählerschaft besteht heute kaum noch aus Kleinverdienern, die durch Lohndumping gefährdet sind. Sondern aus etatistischen Mittelständlern, die eine «unheilige Allianz» mit der SVP gegen die Europäische Union kaum goutieren dürften. Eine kürzlich veröffentlichte Tamedia-Umfrage gibt Hinweise in diese Richtung.
Man wird den Verdacht nicht los, dass SP und Gewerkschaften bewusst eine Eskalation provozieren und ein Scheitern der Verhandlungen mit Brüssel in Kauf nehmen, um nicht in diese Zwickmühle zu geraten. Die Schuld daran schiebt man den FDP-Bundesräten in die Schuhe. Johann Schneider-Ammann und Ignazio Cassis haben sicher Fehler gemacht, strategisch und kommunikativ.
Über das «unbedarfte Geplauder», mit dem der Aussenminister in einem Radiointerview die flankierenden Massnahmen quasi zur Disposition gestellt hat, ärgern sich auch SP-Parlamentarier, die nicht aus der Gewerkschaftsecke stammen. Cassis hat mit seiner erratischen Kommunikation viel Geschirr zerschlagen. Aber der Tessiner ist von Amtes wegen auch der Realpolitik verpflichtet.
Und die ist eindeutig: Die EU verlangt Zugeständnisse bei den flankierenden Massnahmen. «Ohne Entgegenkommen bei der Acht-Tage-Regel wird es nicht gehen», sagte ein EU-Gewährsmann in Brüssel erst kürzlich im Gespräch mit watson. Er weiss, dass ein Rahmenabkommen nicht nur im Interesse der EU ist, sondern auch der Schweiz.
Ist das Rahmenabkommen somit tot, wie es in diversen Kommentaren heisst? Man hofft im Gegenteil, dass der Bundesrat sich vom scharfen Gegenwind von links und rechts nicht einschüchtern lässt und die Verhandlungen wie angepeilt in diesem Herbst zum Abschluss bringt. Denn erst wenn ein Ergebnis vorliegt, weiss man, was Sache ist.
Ein solches Vorgehen wäre auch psychologisch wichtig. Wenn der Bundesrat die Gespräche von sich aus platzen lässt, würde er der EU einen Steilpass für Vergeltungsmassnahmen zuspielen. Mit einem Abschluss hingegen würde er seinen guten Willen unter Beweis stellen. Das weitere Schicksal des Rahmenvertrags wäre dem demokratischen Prozess überlassen. Vielleicht scheitert er im Parlament an SP und SVP, vielleicht in der Volksabstimmung.
Zwingend ist das nicht. Das Schweizer Stimmvolk weiss, dass seine Löhne nicht von den Gewerkschaften bezahlt werden, sondern von der Wirtschaft, die auf einen schrankenlosen Zugang zum EU-Binnenmarkt angewiesen ist. Und die ernüchternden Erfahrungen mit der Masseneinwanderungsinitiative könnten die Lust auf weitere europapolitische Abenteuer dämpfen.
Wenn das Abkommen scheitert, könnte sich die Haltung der EU verhärten. Vielleicht wird dann der EU-Beitritt mit der Zeit mehrheitsfähig. Teile bei der Linken spekulieren ungeniert in diese Richtung. Eine solche «Strategie» aber ist riskant. Realpolitisch bleibt das Rahmenabkommen und mit ihm die Konsolidierung des bilateralen Wegs die gangbarste Option.