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Schwerere Matur – offener Brief an Johann Schneider-Ammann

Johann Schneider-Ammann: Nicht zufrieden mit den hiesigen Mittelschulabgängern.
Johann Schneider-Ammann: Nicht zufrieden mit den hiesigen Mittelschulabgängern.
Bild: KEYSTONE
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«Herr Schneider-Ammann, Sie haben da einen Fehler ...» – offener Brief eines Mathe-Versagers

Bildungsminister Johann Schneider-Ammann reagiert auf das Klagen der Hochschulen, die Maturanden seien nicht mehr in der Lage, Hochschulstudien aufzunehmen. Ungenügende Noten sollen deshalb künftig nicht mehr kompensiert werden können. Das ist völlig falsch. 
25.04.2016, 17:5027.04.2016, 04:52
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Sehr geehrter Herr Bundesrat Schneider-Ammann

Etwa im Jahr 1998, zwei Jahre vor der Matur hatte ich eine kleine Unterredung mit meiner Klassenlehrerin. Sie war der No-Bullshit-Typ und deshalb war es eine sehr kurze Unterredung. Sie lautete in etwa folgendermassen:

«Sie, Maurice, Herr Baumgartner kann Ihnen in Mathematik eine Eins geben, das wissen Sie. Jeder weiss, dass Sie nichts können da. Er wäre aber auch dazu zu bewegen, Ihnen eine Zwei zu geben, dann kommen Sie vielleicht bis zur Matur durch. Sie müssen mir aber jetzt versprechen, dass Sie nicht an die ETH gehen, keinen Numerus Clausus probieren und nicht Wirtschaft studieren.» – «Ok, keine ETH, keine Medizin, keine Wirtschaft, kein Problem. Versprech' ich.»

Obwohl die Unterredung kurz war, hatte sie entscheidenden Einfluss auf meinen weiteren Werdegang. Weil man in unserem Jahrgang die ungenügenden Noten noch nicht doppelt mit guten Noten kompensieren musste, konnte ich den Zweier in Mathematik mit guten Noten in anderen Fächern ausbügeln und erhielt ein Maturzeugnis. 

15 Jahre später schloss ich an der Universität Zürich mit recht guten Noten ab und habe auch einen kleinen Beitrag zur Geschichte der Schweizer Armee und ihrer grössenwahnsinnigen Offiziere im Ersten Weltkrieg geleistet. 

Wäre es nach Ihnen gegangen, Herr Schneider-Ammann, und nicht nach meiner Klassenlehrerin, dann wäre das nicht möglich gewesen. Und geht es jetzt nach Ihnen, dann ist es künftig auch nicht mehr möglich, mit einer ungenügenden Mathematik-Note an einer Universität Geschichte oder Literaturwissenschaften zu studieren. Und es wäre auch nicht mehr möglich, mit einer ungenügenden Deutsch-Note Elektrotechnik, Maschinenbau oder Molekularbiologie zu studieren. 

Muss der Literaturwissenschaftler quadratische Gleichungen beherrschen? Oder der Molekularbiologe den deutschen Genitiv? 

Natürlich nicht. 

Zugegeben: Dem Problem, dass Studienanfänger in der Schweiz keine fehlerfreien Texte auf Deutsch verfassen können und nicht wissen, wie viele Nullen ein Mega hat, können Sie mit strengeren Kompensationsregeln vielleicht beikommen. 

Trotzdem machen Sie damit einen Fehler.

Denn wenn Sie nur noch die in natur- wie geisteswissenschaftlichen Gebieten gleichermassen begabten Mittelschulabgänger an die Hochschulen lassen, dann lassen Sie das Potential aller derjenigen, die auf nur einem Gebiet talentiert und motiviert sind, brach liegen. Und die sind die klare Mehrheit.   

Ich hätte deshalb zwei Bitten an Sie: 

  1. Wenn Sie vermeiden wollen, dass sich Mathe-Low-Performer in die Naturwissenschaften verirren und funktionale Illetristen in die Geistes- und Sozialwissenschaften, dann machen Sie es wie meine Klassenlehrerin und heben Sie die Passepartout-Funktion der Maturität für alle Studienrichtungen auf. Immatrikulationen in zahlenlastigen Fächern sind für ungenügende Mathe-Maturanden ausgeschlossen und für die sprachlich Ungenügenden sind die Geisteswissenschaften tabu. 
  2. Wenn Sie vermeiden wollen, dass es überhaupt Schülerinnen und Schüler gibt, die nicht lesen, schreiben und quadratische Gleichungen lösen können, dann setzen Sie sich als Führungs- und Integrationsfigur bürgerlicher Parteien doch in den Budget- und Steuerdebatten ebenso sehr für den Bildungssektor ein wie beispielsweise für die hochsubventionierte Landwirtschaft oder die weiterhin unbesteuerten Kapitalgewinn-Bezüger, sprich Grossaktionäre. Dies dünkt mich der nachhaltigere Ansatz, gute Studenten zu machen als an den Kompensationsregeln bei Matur-Noten zu schräubeln. 

Es grüsst Sie hochachtungsvoll 

Maurice Thiriet
Lic. Phil. I und Mathematik-Null  

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84 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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jaz
25.04.2016 18:21registriert Februar 2015
Danke, das unterschreibe ich auch. Habe heute noch ein Mathe-Trauma und kenne viele Mathe-Begabte, denen es mit Sprachen so ging. Warum man in der Schweiz bei der Bildung sparen soll, ist mir ein Rätsel, es sei doch unser einziger Rohstoff, sagten sie...
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Timmy :D
25.04.2016 19:26registriert August 2014
Wer keinen französischen Text motivierend vorlesen kann, darf nicht Bundesrat werden.👌
Aber jetzt ernsthaft: In meiner Berufsmaturklasse (Technische) schummeln sich die meisten durch den Französischunterricht. Da es eh schon zuwenige technische Abgänger hat, sollte ein Fach wie Französisch (kaum ein Techniker mag Französisch) nicht noch eine weitere Hürde darstellen. In technischen Berufen reichen anständige Deutsch und Englischkentnisse. Auch die Welschen können Englisch und somit wird auch dieser Aspekt abgedeckt.
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Roger Thiriet
25.04.2016 21:42registriert Februar 2014
Mein Mathelehrer sagte 1966: "Thiriet, wir beide wissen, dass Sie in Mathe nichts können. Dafür können Sie gut schnure (baseldytsch für "sprechen, sich ausdrücken"). An der Matur müssen wir dann schauen, wie ich es mache, dass ich Ihnen keine 1 geben muss."Er gab mir dann den Tipp, die Aufgabe in Darstellende Geometrie schön auszumalen und gab mir einen halben Punkt für "Darstellung". Damit konnte es keine 1 mehr sein, und den 2er kompensierte ich locker in den Sprachfächern. Womit man mal wieder sieht: Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm ....
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