In Genf nennen sie ihn Sheriff. Olivier Jornot, Generalstaatsanwalt der Calvinstadt, will der mächtigste Strafverfolger im Land werden: Bundesanwalt. Als einziger hat sich der 51-Jährige bisher aus der Deckung gewagt und seine Kandidatur öffentlich bekannt gegeben. Die Parlamentskommission beugt sich am Mittwoch über die drei verbliebenen Kandidatendossiers. Seine Inszenierung als harter Hund ist dabei Jornots Trumpf. Doch ist der Sheriff hart mit allen? Oder nur mit einigen?
In einem Strafverfahren in den oberen gesellschaftlichen Kreisen Genfs zeigte der Generalstaatsanwalt eine ungewöhnliche Milde. Es ging um einen Arzt des Universitätsspitals Genf. Der Mann, Thierry Berney, ist Chefarzt der Transplantationsmedizin - einer der angesehensten Chirugie-Posten, die es überhaupt gibt. In Personalunion hält er einen Professorenposten an der Universität Genf.
2016 berichteten Westschweizer Zeitungen, dass Chirurg Berney in seinem Labor jahrelang an menschlichen Organen forschte - ohne Einwilligung der Spender und ohne Bewilligung der Ethikkommission. Das Vorgehen des Chefarztes war so krass, dass die Stiftung Swisstransplant den Ruf der Organspende in der Schweiz ernsthaft in Gefahr sah, und das Spital zu Schritten drängte. Nach internen Untersuchungen eröffnete im November 2016 auch Generalstaatsanwalt Jornot ein Verfahren. Der Verdacht: Verstösse gegen das Transplantations- und das Humanforschungsgesetz, ungetreue Geschäftsbesorgung und ungetreue Amtsführung.
Nach drei Jahren stellte Jornot das Verfahren im September 2019 lautlos ein. Der Professor sei: unschuldig. Die Untersuchung durch Jornot war aber zutiefst mangelhaft. Das zeigt die Einstellungsverfügung, die CH Media vorliegt. Jornot traf mehrere Entscheidungen, die den Beschuldigten möglicherweise ungerechtfertigt vor einer Anklage bewahrten.
Will ein Staatsanwalt ein laufendes Verfahren abschliessen, ohne den Beschuldigten anzuklagen oder zu bestrafen, erlässt er eine Einstellungsverfügung. In dieser muss der Staatsanwalt begründen, warum er nicht anklagen will. Dabei werden in der Regel die wichtigsten Punkte des Verfahrens noch einmal zusammengefasst. Im Fall des Genfer Arztes tat Jornot dies auf rund 20 Seiten, die detaillierten Einblick ins Verfahren geben.
Nur eine Handlung taxierte er als mutmasslich strafbar. Und dieses Delikt liess er nach drei Jahren Untersuchung um drei Monate verjähren. Das ist aber nur die Spitze des Eisberges. Camille Perrier Depeursinge ist Professorin für Strafrecht an der Universität Lausanne und hat ein Standardwerk über die Strafprozessordnung geschrieben. Sie sagt: «Ich war - gelinde gesagt - sehr erstaunt, als ich diese Entscheidung las.»
Bei mehreren Delikten stellte Jornot das Verfahren ein mit der Begründung, es gebe nicht genügend Beweise. Perrier Depeursinge sagt:
In dubio pro duriore, auf Deutsch «im Zweifel für das Härtere», ist ein Grundsatz im Schweizer Recht. Er zwingt Staatsanwälte dazu, Beschuldigte selbst bei Zweifeln anzuklagen. Die Idee dahinter: Staatsanwälte sollen ermitteln, Anwälte verteidigen und Richter am Ende entscheiden. Und eben nicht ein machtbewusster Generalstaatsanwalt alleine per Federstrich.
Natürlich weiss das auch Jornot. Aber er will festgestellt haben, dass es «keine Beweise» dafür gibt, dass das Labor Zellen zu Forschungszwecken verwendet hat, obwohl der Spender oder seine Verwandten ausdrücklich ihren Widerspruch erklärt hatten. Eine wichtige Wertung, denn die Verwendung trotz gegenteiligem Wunsch wäre definitiv strafbar gewesen.
«Ich muss zugeben, dass ich von der Schlussfolgerung der Staatsanwaltschaft überrascht bin», sagt Perrier Depeursinge. «Mir scheint, dass im Gegenteil mehrere Elemente in der Akte die Sicht unterstützen, dass die Zellen entgegen der ausdrücklichen Äusserung der Spender verwendet wurden.»
Erstens ein Untersuchungsbericht des Spital-Auditors, der sich auf zahlreiche Zeugenaussagen stützt. Zweitens die Aussage einer Labormitarbeiterin, die gegenüber Jornot sagte, sie persönlich habe an Organen arbeiten müssen, bei denen die Ablehnung von Forschung dokumentiert war. (Jornot begründete in der Einstellungsverfügung, sie habe keine Organnummern nennen können.) Und als dritten Punkt das merkwürdige Verhalten des Chefarztes. Kurz bevor der Spital-Auditor das Gewebe aus dem Kühlschrank holen wollte, liess der Arzt die Proben vernichten und alle Computerdaten löschen. Die Lausanner Professorin Perrier Depeursinge sagt: «Für mich ist klar, dass mindestens in diesem Punkt eine Anklage hätte erfolgen, respektive ein Strafbefehl hätte ausgestellt werden sollen.»
Klar ist ebenso: Eine Verurteilung oder nur schon eine Anklage gegen den hoch angesehenen Chefarzt hätte für das Genfer Universitätsspital einen grossen Reputationsschaden bedeutet. Jornot hat es mit der Verfahrenseinstellung davor bewahrt. Der Einzige, der die Einstellung hätte anfechten können, war der Arzt selbst.
Die Geschichte ist ein bisher unbekanntes Beispiel für Jornots selektive Milde. Aber bei weitem nicht das Einzige. Im Herbst 2018 eröffnete der Generalstaatsanwalt ein Verfahren gegen den Genfer Stadtrat Guillaume Barazzone, der 80'000 Franken ungerechtfertigte Spesen bezog. Zum Beispiel für Champagner um sechs Uhr morgens in einer Karaoke-Bar.
Jornot stellte das Verfahren gegen Barazzone aber kurzerhand ein, nachdem dieser das Geld zurückgezahlt hatte. Der Ex-Politiker kam so trotz - salopp gesagt - Griff in die Staatskasse mit weisser Weste davon. Jornot begründete, es bestehe kein öffentliches Interesse an einer Strafverfolgung.
2015 liess Jornot die Genfer Büros der Grossbank HSBC durchsuchen und eröffnete ein Verfahren wegen qualifizierter Geldwäscherei. Bundesanwalt Michael Lauber hatte Ermittlungen zuvor verweigert, nachdem der Informatiker Hervé Falciani Bankdaten französischen Behörden und Journalisten übergeben hatte. Jornots Zugriff war ein tolles Spektakel, doch auch dieses Verfahren stellte er unter kontroversen Umständen ein. HSBC zahlte 40 Millionen Franken an die Republik Genf als «Wiedergutmachung» und war damit weissgewaschen. Der Betrag war fast vernachlässigbar. Die HSBC-Gruppe machte im gleichen Jahr 20 Milliarden Dollar Gewinn. Für Jornot war es gut genug.
Bei anderen schlug Jornot hingegen mit aller Härte zu. Er warf so viele Kleinkriminelle in den Knast, dass unter anderem deshalb das Untersuchungsgefängnis Champ-Dollon gemäss «Tages-Anzeiger» gefährlich überbelegt war. Und gegen den gefallenen Staatsrat Pierre Maudet ermittelt Jornot energisch. Überenergisch meinen manche. Maudet ist ein alter Rivale Jornots aus Politiker-Tagen.
Den engen Maudet-Vertrauten Simon Brandt liess Jornot kurzerhand wegen einer angeblichen Amtsgeheimnisverletzung verhaften. Und zwar kurz vor der Wahl der Genfer Stadtregierung, bei der Brandt Kandidat war und die er natürlich prompt verlor. Die schwersten Vorwürfe gegen ihn lösten sich danach in Luft auf; Brandt selbst hat eine Klage gegen Polizisten eingereicht.
Jornot liess seine Mediensprecherin auf Anfrage von CH Media ausführlich Stellung nehmen. Diese zog die Zitate allerdings vor Publikation wieder zurück, weil die Redaktion der Staatsanwaltschaft nicht die Möglichkeit gebe, «mit ihren besten Argumenten zu antworten». Der Aufforderung der Redaktion, diese «besten Argumente» zu nennen, kam die Staatsanwaltschaft nicht nach.
Der beschuldigte Chirurg Berney bestritt im Verfahren alle Vorwürfe, insbesondere, Zellen entgegen dem ausdrücklichen Wunsch von Angehörigen verwendet zu haben. Da das Verfahren eingestellt wurde, ist Berney strafrechtlich unschuldig. Jornot hat das Kapitel ein für alle Mal geschlossen. (saw/aargauerzeitung.ch)