In Basel sind seit Montag Restaurants und weitere Einrichtungen geschlossen. Was denken Sie über solche Massnahmen?
Andreas Brenner: Die Politik orientiert sich meiner Meinung nach hier wie überall zu stark an den Empfehlungen der Virologen. Das hinterlässt ein ungutes Gefühl und ist gesellschaftspolitisch hoch problematisch.
Was kritisieren Sie daran? Dieser Ablauf scheint logisch.
Wir haben es seit dem Frühjahr mit gravierenden Einschnitten in die Gesellschaft zu tun, orchestriert von einer Kleinstwissenschaft, die die Allerwenigsten nachvollziehen können.
Die Politik hört zu stark auf die Wissenschaft?
Wir leben in modernen Wissensgesellschaften und brauchen wissenschaftlichen Sachverstand, das ist klar. Aber gerade darum brauchen wir möglichst viel Wissen, und nicht das exklusive Wissen einer Disziplin. Da aber fast ausschliesslich auf die Virologie gehört wird, werden auch die langfristigen Folgen der Anti-Corona-Regeln fast gar nicht diskutiert. Es heisst «Darüber reden wir später». Das ist nach meiner Ansicht ein Irrtum. Es könnte sein, dass wir in etwas hineinrutschen, aus dem es kein Zurück mehr gibt.
Ist das Schwarzmalerei, oder steckt mehr dahinter?
Im Frühjahr ist mit den Lockdowns und Grenzschliessungen etwas passiert, was niemand für möglich gehalten hätte. Damals lautete die Vertröstung der Politik, das werde es nie wieder geben. Jetzt sind wir im zweiten Lockdown, nur nennt man das jetzt anders. Hier in Basel spricht die Politik-PR vom «Lockdown light». Oder man spricht von der «neuen Normalität». Ein vollkommen absurder Begriff! Normalität ist normal, nicht neu. Auch hier wird der Bevölkerung etwas vorgemacht. Die Erfahrungen der letzten acht Monate sind nicht gerade vertrauenserweckend, und das gehört zu den mittel- bis langfristigen Folgeschäden, die gar nicht mitbedacht werden.
Ist das nicht ein Zeichen unserer Überforderung? Unsere Gesellschaft hat seit 100 Jahren keine Krise dieser Grössenordnung erlebt.
Bei ähnlich einschneidenden Ereignissen wie der Spanischen Grippe oder Kriegen war es vollkommen klar, dass die Staaten versucht haben, mit grossen Massnahme dirigistisch einzugreifen. 100 Jahre später bei Corona erleben wir nun aber exakt das Gleiche. Daran beunruhigt, dass man den Eindruck hat, es habe sich seither gesellschaftlich nichts getan. Der Staat ist wieder in alter Macht und Präsenz da. Dabei dachten wir doch, dass wir mittlerweile ganz woanders seien. Jetzt werden wir eines Schlechteren belehrt. Der Staat hat eine enorme Macht, und die Gesellschaft ist nirgendwo oder nur in sehr geringem Mass präsent. Bei diesem Punkt kann ich auch den Journalisten mir gegenüber nicht von der Kritik ausnehmen.
Nur zu!
In allen Medien von links bis rechts ist der Tenor ziemlich eindeutig: Die Massnahmen der Staaten werden orchestriert und gutgeheissen. Ich will damit nicht sagen, dass sie nicht gerechtfertigt seien, aber Aufgabe der Medien ist doch das kritische Hinterfragen. Ein entscheidender Moment in der Corona-Historie stellt da meiner Meinung nach die Rede des französischen Präsidenten Emmanuel Macron dar, der in seiner Ansprache an die Franzosen erklärt hat: «Wir sind im Krieg gegen das Virus.» Die Rede wurde von der Marseillaise unterlegt, einer schönen Melodie, die aber auch eine militärische Marschmusik ist.
Der Text ist sehr kriegerisch.
Genau. Die Wirkung der Rede ist ja auch deshalb problematisch, weil Macron starke europapolitische Ambitionen hatte. Und deshalb war das auch eine Rede an das europäische Volk. Alle anderen Regierungen haben sich dem dann auch mehr oder weniger angeschlossen, aber eben auch die Medien. In vorauseilendem Gehorsam, um den Politikern die Arbeit zu erleichtern, haben sie sich mit Nachfragen zurückgehalten. Und es hätte viele Nachfragen gegeben.
In der Gesellschaft macht sich aber generell ein gewisser Überdruss breit. Ein Indiz dafür sind die Fallzahlen, die trotz den neuen Massnahmen relativ hoch bleiben.
Auch da ist die Kommunikation der Politik nicht gerade überzeugend. Die deutsche Kanzlerin hat in einer Rede gesagt, es sei mehr Selbstverantwortung gefragt. Wer dem nicht nachkomme, müsse die Härte des Gesetzes spüren. Ja was denn nun? Selbstverantwortung oder Gehorsam? Wollen wir zurück in den Obrigkeitsstaat des 19. Jahrhunderts?
Die Rechtfertigung der Politik lautet, dass sie eine Überlastung der Gesundheitssysteme verhindern will. Das ist doch ein legitimes Anliegen.
Ja natürlich: Die Überlastung der Gesundheitssysteme muss verhindert werden und damit eben auch Triage-Situationen. Wenn Ärzte entscheiden müssten, wer das letzte Gerät bekommt, wäre der ethische Konsens in der Gesellschaft dahin. Nur heisst das nicht, dass, wie wir es seit dem Frühjahr erlebt haben, alles andere diesem Entscheid untergeordnet werden darf. Wenn die aktuellen Massnahmen ethisch geboten sind, kann man sich fragen, weshalb der Staat nicht auch bei anderen Übeln entsprechend eingreift, zum Beispiel bei Klimawandel oder Welthunger.
Was bedeutet das für die Corona-Massnahmen?
Sie haben den Beigeschmack, dass man aus staatsegoistischen Gründen so agiert. Die von mir kritisierte Rede von Emmanuel Macron hat eine Renationalisierung des Politischen in Europa bewirkt. Das ist die Tragik von Macron. Er wollte der erste «europäische» Präsident Frankreichs werden und hat das nun aufgegeben.
Sie verwenden im Zusammenhang mit den Corona-Massnahmen den Begriff Verantwortungslücke. Was kann man darunter verstehen?
Die Anti-Corona-Massnahmen wurden mit dem Begriff Verantwortung gerechtfertigt. Die Lücke sehe ich darin, dass man die Folgen der Massnahmen nicht zu Ende denkt. Wir haben massive Verwerfungen in der Gesellschaft. Leute verlieren ihren Job, ihre Existenzen, ihre kleinen Unternehmen. Berücksichtigen muss man auch gesundheitliche Folgen durch Vereinsamung etc. Und ganz besonders sollte man die internationalen Folgen beachten. Das UNO-Welternährungsprogramm, der diesjährige Friedensnobelpreisträger, hat darauf hingewiesen, dass im Corona-Jahr der Welthunger zugenommen hat. Das hat auch mit den Corona-Massnahmen in den reichen Ländern zu tun.
Wie meinen Sie das?
Wenn reiche Staaten wie die europäischen ihre Grenzen gegenüber der Welt schliessen und die über Jahrzehnte aufgebauten Warenströme stoppen, hat das gravierende Folgen. Es gibt Untersuchungen, dass in Afrika sehr viel mehr Menschen an den Folgen dieser Wirtschaftspolitik sterben als an Corona. Das haben die reichen Länder zu verantworten. Dies ist eine dieser gravierenden Lücken, die man übersehen oder ignoriert hat.
Man darf also nicht nur auf unsere rund 100 Covid-Todesfälle pro Tag schauen?
Ein Staat darf natürlich seine eigene Bevölkerung schützen. Das ist vollkommen unstrittig und in gewisser Weise auch geboten. Aber wir leben in einer global vernetzten Welt. Diese Massnahmen hätten begleitet werden müssen von einer internationalen Wirtschafts- und Unterstützungspolitik. Dann würden wir über ganz andere Summen reden als jene, über die wir jetzt schon stöhnen. Es wäre aber der Preis unserer souveränen Entscheidungen, die wir für ethisch gerechtfertigt halten.
Es gibt aber auch Forderungen, als Konsequenz aus Corona die Globalisierung zurückzufahren und strategisch wichtige Bereiche aus China zurückzuholen.
Auch hier sind erst einmal alle Staaten souverän, sie dürfen das machen, wenn sie es für gerechtfertigt erachten. Nur sind die Gewichte höchst unterschiedlich verteilt. Ein sehr kleines Land wie die Schweiz ist wirtschaftlich ein Gigant gegenüber einem grossen Land wie Äthiopien. Das muss berücksichtigt werden.
In welcher Form?
In den letzten Jahrzehnten haben wir erlebt, dass die reichen Länder die armen Länder zu Marktöffnungen gedrängt haben, was viele Volkswirtschaften in Afrika überfordert hat. Man kann und darf die Globalisierung rückgängig machen. In vielen Fällen sollte man das sogar. Wir haben in der Schweiz ja beispielsweise über solche Prozesse in der Landwirtschaft debattiert. Aber man muss einen Schritt weiter denken und sich fragen, was die Rückholung der Produktion für die anderen bedeutet. Diese Länder müssen mittelfristig darauf vorbereitet werden. Gegebenenfalls müsste man ihnen helfen, eine Strukturanpassung hinzubekommen.
Sie haben mögliche Nebenwirkungen wie psychische Probleme oder häusliche Gewalt erwähnt. Werden die einfach in Kauf genommen?
Das ist schwer zu sagen. Gerade häusliche Gewalt spielt sich ja vor allem im Verborgenen ab und ist mit Scham behaftet, weswegen viele Fälle unbekannt bleiben. Bei den psychischen Erkrankungen sieht das anders aus, aber auch hier gibt es eine hohe Dunkelziffer. Es ist aber klar, dass psychisch beeinträchtigte Menschen stark unter dieser Entwicklung leiden. Sie brauchen noch mehr als die anderen den Austausch in der Präsenz. Daraus kann man auch lernen, dass wir nicht der Vorstellung erliegen dürfen, die Gesellschaft könne virtuell funktionieren. Wie man von der Philosophie lernen kann, findet die Gesellschaft auf dem Marktplatz, damals also dem von Athen, statt. Eine Gesellschaft, die auf Dauer in die Zimmer eingesperrt wird, ist keine Gesellschaft mehr. Das wird aber viel zu wenig diskutiert und statt dessen feiert man die Fortschritte der Digitalisierung.
Warum soll das schlecht sein?
Wenn die Politik nicht mehr auf dem Marktplatz stattfindet, kommt sie zu den Menschen nach Hause. Dann müssen wir erklären, mit wem wir Weihnachten feiern werden oder in welchem Verhältnis wir zu jenen stehen, mit denen wir im Park spazieren gehen. Die für die Gesellschaft ganz wichtige Unterscheidung zwischen privat und öffentlich wird dann, wie derzeit zu beobachten ist, umgekehrt: Die Öffentlichkeit wird abgeschafft und das Politische kommt in das Private hinein. In diese Richtung geht auch die Corona-App. Virologisch mag sie ja begründet sein, aber wir implementieren damit ein massives Kontrollinstrument. Das darf man keine Sekunde vergessen, und auch nicht, dass das wieder abgestellt werden muss. Die Erfahrung dieses kurzen Jahres, in dem so viele Ankündigungen bezüglich der zeitlichen Begrenztheit von Massnahmen wieder revidiert wurden, lassen da aber nichts Gutes erwarten.
Jetzt könnte man auf die Länder im Fernen Osten verweisen. Auch Demokratien wie Südkorea und Taiwan legen wenig Wert auf Datenschutz und Privatsphäre, kommen damit aber ohne Lockdown durch die Pandemie.
Diese Staaten haben ein anderes Verständnis von Gesellschaft, wie wir es in Europa seit dem 18. Jahrhundert entwickelt und erkämpft haben. Das ist keine Kritik an diesen Gesellschaftsentwürfen, aber für Europa wäre dies ein völliger Rückschritt. Man würde die westeuropäische Gesellschaft nicht wiedererkennen, wenn sie nach ostasiatischem Vorbild aufgestellt wäre.
Der Winter ist noch lang. Es gibt die Hoffnung auf einen Impfstoff, aber wie kommen wir durch die nächsten Monate?
Ich habe den Eindruck, dass es in der Politik seit dem Frühjahr keine Entwicklung gegeben hat. Es hat damals Pannen und Fehler gegeben, weil die Politik vor einer gänzlich neuen Situation stand. Solches Fehlverhalten ist nachvollziehbar und entschuldbar. Jetzt aber verfügen wir eigentlich über eine enorme Erfahrung, die Entscheide sind aber immer noch die gleichen, ebenso die Kommunikation und die Begründung. Man stützt sich weiterhin ab auf die Virologie, unter Ausschluss allen anderen gesellschaftlichen Wissens. Unter diesen Bedingungen kann man sich theoretisch vorstellen, dass die Massnahmen bis zum Sankt Nimmerleinstag verlängert werden, weil die Politik nicht bereit ist, auf andere Stimmen zu hören.
Selbst dann, wenn der Impfstoff kommt?
Dann haben wir vielleicht Corona besiegt. Aber die WHO hat schon in den 1990er Jahren gesagt, das 21. Jahrhundert werde das Jahrhundert der Pandemien sein. Das heisst, die nächste Pandemie wird kommen. Dann haben wir die Blaupause aus dem Jahr 2020 die dann wieder aus der Schublade gezogen werden kann. Und dafür ist ja schon vorgesorgt worden.
In welcher Form?
Das sieht man sowohl auf technischer wie auf gesellschaftlicher Ebene. Man kann die App ja auch für andere Pandemien verwenden. Und gesellschaftlich findet seit Monaten eine Veränderung unseres Selbstverständnisses statt: Unter den virologischen Erklärungen haben wir begonnen, uns selbst als «Gefährder» zu sehen. Den Begriff kannten wir bis dahin nur aus dem Kampf gegen den Terror, jetzt aber sind wir alle Gefährder. Früher waren Gefährder moralisch abwegige Personen, die man vielleicht mit Aufklärung auf den Pfad der Tugend zurückführen konnte. Wenn aber das, was einen zum Gefährder macht, in uns drin ist, schwindet alle Hoffnung.
Die Botschaft des Philosophen lautet somit: Wir riskieren, unsere hart erkämpften Werte leichtfertig oder sogar langfristig zu opfern.
Das ist meine Befürchtung.
Es gibt aber einen positiven Aspekt. Wir haben erlebt, dass man in kurzer Zeit enorm viel bewegen kann. Das liesse sich auf andere Krisen anwenden, etwa das Klima.
Das ist die überraschende Erfahrung aus dem Corona-Jahr: Man kann etwas verändern. Aber auch hier steht die Politik nicht allzu gut da. Ihre Botschaft an die Klimajugend lautete noch im März bei den letzten «Fridays for Future»-Demos, deren Erwartungen seien vollkommen irreal. Man könne das Wirtschaftssystem nicht ändern. Auf einmal sieht man, dass man es kann. Man muss es nur wollen. Das gilt für das Klima wie für den Welthunger, den ich für noch gravierender halte. An ihm sterben heute viel mehr Menschen als durch den Klimawandel.
Geht es wohl letztlich einfach darum das eigene Buch zu vermarkten?