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Interview

Pedro Lenz im Interview: «Mich stört das Klischee vom Büezer als Verlierer»

Interview

«Mich stört das Klischee vom Büezer als Verlierer»

Mit seinem neuen Roman «Primitivo» kehrt Pedro Lenz zu seinen Wurzeln zurück. Im traurig-schönen und präzisen Milieuroman erzählt er auf Berndeutsch vom aufgeweckten Maurerlehrling Charly und seiner Clique, von den 1980er-Jahren und von seinem Mentor, dem klugen, alten Arbeitskollegen Primitivo, der auf dem Bau tödlich verunfallt.
25.10.2020, 07:2125.10.2020, 14:11
Hansruedi Kugler / ch media
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Pedro Lenz, Keystone
Pedro Lenz führe als Vater zweier kleiner Kinder ein fast schon seriöses Leben, sagt er.bild: keystone

Mit dem Grosserfolg von «Der Goalie bin ig» haben Sie sich in die erste Reihe der Schweizer Literatur geschrieben. Haben Sie keine Angst, daran gemessen zu werden?
Pedro Lenz: Grössere Angst hatte ich, als ich nach dem Goalie weiterschreiben musste. Die Erwartungshaltung habe ich umschifft, indem ich zuerst einen Geschichtenband herausgab und erst dann den zweiten Roman «Die schöne Fanny». Ich spürte den Druck nicht mehr so. Die «Fanny» wurde für sich besprochen, etwas weniger euphorisch als der «Goalie», aber es war kein Fluch des Zweitlings.

«Primitivo» erzählt vom aufgeweckten Maurerlehrling Charly und spielt im Jahr 1982. Warum keine Fortsetzung des «Goalie»?
Die Versuchung ist immer vorhanden. Ich habe den «Goalie» ja offen beendet. Da könnte man wieder ansetzen. Aber gleichzeitig dachte ich, da gäbe es noch so viel zu erzählen aus dieser Zeit. Ich gehe lieber mit neuem Elan in diese Zeit, mit einem anderen Blickwinkel.​

Viele Gegenwartsromane schildern die Arbeiterschicht als Hölle von Alkoholismus, Sprachlosigkeit, Frustration, Rassismus, Gewalt und Sexismus. Die Jungen sagen sich darin meistens, nichts wie weg. Ihr neuer Roman ist da eine willkommene Gegenstimme.
Mir war das schon lange ein Anliegen. Mich stören die klischierten Vorstellungen vom Büezer als Verlierer, der auf dem Bau oder in der Fabrik landet, weil er sonst nichts kann. Dagegen wollte ich anschreiben und zeigen, dass es, um einen Bau zu errichten, viele talentierte Leute braucht, vom Maurer über den Vorarbeiter bis zum Architekten. Das sind alles Leute mit Berufsstolz und Bildung, Leute, die sich Gedanken über ihre Arbeit machen. Am Ende der Kette gibt es dann vielleicht schon einen Hilfsarbeiter oder einen Alkoholiker. Aber den Fokus wollte ich auf jene legen, die mit Berufsstolz über den Tellerrand blicken. Solche Leute habe ich auf dem Bau viele kennengelernt.

Der Polier sagt mal zu Charly, sie seien auf dem Bau eigentlich Diplomaten, weil das Material nie mit den Zeichnungen der Architekten zusammenpasse. Da steckt sogar eine politische Metapher drin.
Genau darauf wollte ich anspielen. Es gibt heute sehr viele Kopfarbeiter. Aber ausführen muss es dann doch noch jemand. In der Industrie wird oft fernab produziert, aber bauen muss man halt vor Ort, das kann man nicht delegieren.

Warum wieder ein Roman in Berndeutsch? Als Nichtberner ist das echt schwierig zu lesen.
Ich möchte daraus eine Selbstverständlichkeit machen. Man fragt einen amerikanischen Autor auch nie, warum er amerikanisches Englisch schreibt. Jedem ist klar, dass es die Sprache ist, in der er jeden Tag redet, träumt und sich am besten ausdrücken kann. Für mich ist Berndeutsch die Sprache, in der ich mich spontan ausdrücken kann, in der ich die Finessen und Emotionen genau kenne. Der Preis, den ich dafür bezahle, ist, dass mir die Leser sagen, es habe sie angestrengt.

Es ist ja auch fast unmöglich, Wörter wie «Stüeu» oder «büuig» laut nachzusprechen. Dass das Stühle sind und billig heisst, muss ich mir erst zusammenreimen.
Sogar ein Stadtberner würde sagen, es störe ihn. Die Vokalisierung ist eine ländliche Eigenart des Bernischen. Der Stadtberner würde Stüeu mit einem l schreiben. Mir ist klar, dass ich dem Leser einiges zumute. Aber nur im Sprachlichen, nicht mit einem komplizierten Plot. Ich denke mir, dass die Anstrengung belohnt wird. Ich kenne deutsche Leser, die mir sagen, dass sie zwar gekämpft haben, aber nun stolz sind, es geschafft zu haben.

Warum lassen Sie den Gastarbeiter Primitivo so perfekt Berndeutsch reden? Er kam ja erst spät in die Schweiz. Ich fand das unrealistisch.
Das ist nicht naturalistisch. Ich musste mich entscheiden, ob ich ihn ein spanisch gebrochenes Deutsch reden lassen soll. Es erschien mir aber zu schwierig. Ich umgehe es ein wenig, indem ich ihn öfters in die indirekte Rede genommen habe. Aber es stimmt, ich hätte ihn noch mehr in die indirekte Rede stellen müssen. Im wirklichen Leben habe ich meistens Spanisch mit ihm gesprochen. Ich wollte aber nicht so weit gehen, das Buch zweisprachig zu schreiben.​

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Es gab also für die Figur ein Vorbild? Der alte, tödlich verunfallte Bauarbeiter Primitivo ist ja alles andere als primitiv, sondern ein Lebensphilosoph und Lyrikkenner.
Als 16-Jähriger mit abgebrochener Mittelschule war ich als Lehrling auf dem Bau recht schutzlos. Ich hatte dort eine Art Mentor, der ähnliche Züge wie der Primitivo im Roman hatte und der auch als Jugendlicher im Spanischen Bürgerkrieg mitgekämpft hat. Wie Primitivo kam auch er bei einem Arbeitsunfall ums Leben. Er hiess aber José Perez.

Wer ein wenig über den Lebenslauf von Pedro Lenz weiss, liest den Roman als Autobiografie. Charly ist wie Sie Jahrgang 1965, wächst in Langenthal auf, lernt Maurer, hat eine spanische Mutter.
Das ist ein altes Missverständnis. Natürlich hat der Roman eine autobiografische Basis, aber da ist auch viel Fiktion drin. Genau wie beim «Goalie». Meine Mutter wurde beim Erscheinen des Romans oft gefragt, ob ich wirklich Heroin genommen hätte und wie sie das aufgenommen habe. Die Leute dachten, ich sei der Goalie. Meine Mutter war ganz schockiert, weil sie diese Frage nicht verstand.​

Beim Goalie haben Sie das Autobiografische stärker verfremdet?
Ja, ich wollte alle schützen, vor allem jene aus der Drogenszene. Manche waren dann aber sogar enttäuscht, dass ich sie verfremdet habe. Sie sagten mir, wenn ich schon einen Roman schreibe, hätten sie erwartet, dass man sie darin erkenne. Da war ich perplex.​

War das der Stolz des Überlebenden oder die Chance, sich in einem Buch verwiegt zu sehen?
Es ist wohl ein Zeitphänomen, dass man heute lieber in der Öffentlichkeit oder in den Medien stehen will, egal ob mit etwas Positivem oder Negativem.​

Wie viel Pedro steckt dennoch in diesem unbefangenen, neugierigen, wortgewandten jungen Charly im Roman «Primitivo» und seinem Hang zum theatralen Auftritt?
Schon einiges. Wir hatten Freundescliquen und die Lust am Philosophieren. Mit 16 oder 17 Jahren wusste ich noch viel genauer, wie die Welt sein müsste. In diesem Alter ist man ja noch mehr im Gut-Böse-Schema drin. Wir hatten unsere bedingungslosen Helden. Che Guevara war für mich makellos, ein Idealbild. Heute würde ich schwer daran zweifeln.

Polo Hofer, der im Roman vorkommt, blieb Ihr Musikheld?
Lange Zeit, ja. Auch wegen seines Verdienstes, aus der Rockmusik in der Schweiz etwas Normales gemacht zu haben. Sodass viele nachher gesagt haben: Wenn wir Musik machen, dann machen wir sie in unserer Sprache. Für mich waren diese Texte damals wichtig und haben mich auch politisiert. Und in der Schweiz haben wir im Unterschied etwa zu Deutschland das Glück, dass sogar ein nationaler Star wie Polo Hofer in die Provinz kommt. Ich hörte ihn etwa in der «Traube» in Wynau und im Salzhaus in Wangen an der Aare.

Im Roman kommt ein bunter Haufen von Gastarbeitern auf dem Bau zusammen, die auf etwas ruppige Art solidarisch sind. Sie waren im Krieg, sind Vertriebene, müssen neun Monate im Jahr ohne ihre Familie leben. Man spürt das Mitgefühl des Autors.
Ja, und hoffentlich auch den Respekt. Damals redeten wir über Dinge, die heute etwas einfacher sind, etwa das Saisonnierstatut oder die Frage, ob man nach dreissig Jahren in der Schweiz wieder zurück in das Dorf nach Spanien soll. Meistens war das eine ungelöste Frage, weil die Kinder hier integriert waren. Viele Heimkehrer wurden unglücklich, weil sich ihr Land verändert hatte. Solche Dinge haben mich schon als Jugendlicher interessiert. Ein interessanter Aspekt kommt dazu. In den Dreissiger- und Vierzigerjahren gab es in der Schweiz viele Bildungsveranstaltungen für Arbeiter, Abendkurse mit Schulwissen. Diese Arbeiterbildung ging später verloren. Bei den Spaniern war das in den 1980er-Jahren immer noch so. Im Spanierklub in Langenthal gab es zum Beispiel eine Bibliothek. Ich selbst hatte die Mittelschule nicht geschafft, bewahrte mir aber die Freude an Büchern. Mein Roman ist auch eine Hommage an diese Annäherung.

Einige Figuren sind limitiert in einer Sprache von Floskeln und Allgemeinplätzen. Im Roman sind das aber berührende Momente, etwa, als die Arbeiter vom Tod des Kollegen Primitivo hören. Da spürt man den Sprachkolumnisten Pedro Lenz, der dann schreibt, wenn einen das Gefühl überwältigt, sei eine Floskel okay. Ist das so?
Genau. Indirekt nehme ich dieses Motiv später im Roman auf, als der Pfarrer sagt, man müsse die Abdankung nicht neu erfinden, die Liturgie stelle als Immergleiches schon den Rahmen zur Verfügung. Floskeln haben ja auch so etwas Immergleiches, als Stütze für Situationen, in denen einem die Worte fehlen. Sie sind auch ein Schmiermittel für soziale Begegnungen.​

Ihr Roman scheint im besten Sinne Volksliteratur zu sein. Können Sie mit dem Begriff etwas anfangen?
Ja, darüber habe ich mir immer wieder Gedanken gemacht. Ich versuche, in meinen Geschichten jeweils eine leicht zugängliche Erzählebene zu finden und denke dabei immer an meine ehemaligen Berufsschulkollegen. Ich möchte, dass sie auch an meine Lesungen kommen, das Buch verstehen. Ich will keine elitäre Zugangsschwelle. Und gleichzeitig möchte ich, dass auch Literaturkenner und Vielleser etwas entdecken. Bei allem Respekt und Distanz ist deshalb Jeremias Gotthelf ein Vorbild.

Über die Liebe im Roman haben wir noch nicht gesprochen.
Das kommt im Roman ja auch nur so nebenbei vor. Ein bisschen Autobiografie ist dabei. Wir hatten viele Schwärmereien, aber kaum ausgelebte Liebe. Deshalb wollte ich zeigen, dass der Charly nicht so recht weiss, wie man das anstellt mit den Frauen.

«Primitivo» ist Jugendroman, Milieuroman und ein politischer Roman. Was davon ist Ihnen am wichtigsten?
Milieuroman gefällt mir am besten. Bei politischer Literatur denke ich immer an DDR-Romane, in denen der Arbeiter jederzeit der edle Held sein musste.

Politisch ist Ihr Roman trotzdem. Sie tragen Weltpolitik wie Kolonialkriege, den KZ-Arzt Mengele und den Spanischen Bürgerkrieg auf die Baustelle in der Schweizer Provinz.
Das ist gar nicht so gesucht, wie man meinen könnte. In den 1980er-Jahren hatten wir uns sehr für die Kolonialkriege im südlichen Afrika interessiert, die auch in den Schlagzeilen waren. Gleichzeitig hatte ich Arbeitskollegen, die aus diesen Kriegen kamen. Nach monatelangen Kriegseinsätzen hatten sie psychische Defekte, die damals zu wenig ernst genommen worden sind.

Politisch ist «Primitivo» auch im grundlegenden sozialen Sinn: Da reden die Leute in der Beiz miteinander, auch über Milieugrenzen hinweg. Peter Bichsel beklagt ja das Verschwinden dieser Kultur. Ihr Roman wirkt in seiner Nostalgie geradezu als Utopie einer lebendigen demokratischen Kultur.
Ich bin total einverstanden. Je urbaner wir werden, desto mehr bewegen wir uns in einer Blase mit lauter Gleichgesinnten. In den sozialen Medien sowieso. In meiner Jugend und in der Kleinstadt war man gezwungen, am gleichen Tisch zu sitzen, Gymnasiasten und Lehrlinge. Weil es keine spezifischen Szenelokale gab. Der Ort war einfach zu klein, und man war in der Beiz sozial durchmischter. Das ist Bichsels Ideal, das es nicht mehr gibt. Ich bin mit ihm hundert Prozent einverstanden.

In einem Interview sagten Sie einmal, um von der Schriftstellerei zu leben, müssten Sie 200 Mal pro Jahr auf eine Bühne stehen.
Zum Glück ist das nicht mehr so. Aber es stimmt: Am Anfang musste ich wirklich 200 Mal im Jahr auftreten.​

Das Jahr 2020 reisst Ihnen wohl ein tiefes Loch in die Kasse?
Ich hatte das Glück, dass ich meine Einnahmen immer seriös abgerechnet habe und brav die Steuern bezahlte. Nun wurde uns freien Künstlern mit einem Durchschnitt der letzten Jahre das verpasste Einkommen berechnet. Entsprechend bekam ich in den Lockdown-Monaten die Ausfallentschädigung. Aber Kollegen von mir, die nicht so pingelig Buchhaltung geführt hatten, kamen weniger gut weg.

Besonders froh sind Sie darüber wohl auch, weil Sie dieses Jahr zum zweiten Mal Vater geworden sind.
Ich bin unglaublich glücklich und nehme es mit Demut. Der wenige Schlaf bringt mich aber auch an physische Grenzen. Man kann die Kinder nicht wie ein Hobby ab und zu hervornehmen. Die sind immer da und fordern.​

«Aber ich habe mich auch umgestellt, bin fast schon ein langweilig seriöser Mensch, rauche nicht mehr, trinke kaum noch.»
Lenz übers Vatersein

Zumal Sie ja erst mit über 50 Jahren Vater geworden sind.
Das hat den Vorteil, dass man ein wenig Lebenserfahrung hat. Aber ich habe mich auch umgestellt, bin fast schon ein langweilig seriöser Mensch, rauche nicht mehr, trinke kaum noch, gehe früh zu Bett, in Bars sieht man mich nicht mehr. Und wer mich morgens um sieben anruft, der erreicht mich wach. Ich vermisse es wohl weniger als ein junger Vater. Ich verpasse nichts.

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17 Kommentare
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MaskedGaijin
25.10.2020 09:05registriert Oktober 2014
"Je urbaner wir werden, desto mehr bewegen wir uns in einer Blase mit lauter Gleichgesinnten." Schon lange nichts mehr so wahres gelesen.
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U+1F595
25.10.2020 10:50registriert Juli 2020
FC Schummertal
Best Goalie ever!
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