Schweiz
Interview

Worüber die Schweizer Jugend sich Sorgen macht

Auch in Zeiten des Internets nutzen viele Schweizer Kinder das Sorgentelefon von Pro Juventute.
Auch in Zeiten des Internets nutzen viele Schweizer Kinder das Sorgentelefon von Pro Juventute.
Bild: shutterstock
Interview

«Jeden Tag wenden sich mehr als zwei Kinder oder Jugendliche mit Suizidgedanken an uns»

Worüber macht sich die Schweizer Jugend Sorgen, wovor fürchtet sie sich? Annelis Habegger ist seit zehn Jahren für das Sorgentelefon von Pro Juventute tätig. Im Interview spricht sie über Kinder, deren Eltern streiten, und Jugendliche, die sich das Leben nehmen wollen.
23.12.2015, 09:3804.01.2016, 09:07
Mehr «Schweiz»

Frau Habegger, worüber machen sich Kinder und Jugendliche heutzutage Sorgen?
Annelis Habegger: Am häufigsten höre ich Fragen wie «Bin ich auf dem richtigen Weg?» oder «Komme ich gut an?» Es geht viel um Sexualität, Liebe und auch Freundschaft.

Wovor haben sie vor allem Angst?
Viele fürchten sich davor, dass sie den Anforderungen nicht genügen. Den eigenen, aber auch den Vorstellungen von Eltern oder Freunden. Sie wollen in der Schule so gut sein, wie es von ihnen verlangt wird, sie möchten die richtigen Kleider tragen und den richtigen Körper haben.

Sie sprachen gerade das Thema Sexualität an. Welche Rolle spielt Homosexualität in der Beratung?
Das ist natürlich auch oft ein Thema. Ich stelle aber fest, dass es bei dieser Thematik besonders oft heisst «Ein Freund glaubt …» oder «Ein Freund hat gesagt …». Obwohl die Beratung ohnehin völlig anonym abläuft, haben die Jugendlichen dort das Bedürfnis, sich zusätzlich hinter einem «Freund» zu verstecken.

Die Angst vor Arbeitslosigkeit ist in der Schweiz auch immer wieder ein grosses Thema.
Vielleicht unter Erwachsenen. Bei Kindern und Jugendlichen geht es aber eher darum, dass sie sich wünschen, einen guten Abschluss zu erreichen. Oftmals sind die eigenen Ansprüche auch viel zu hoch gesetzt. Die Jugendlichen machen sich Sorgen, dass ihre Ausbildung am Ende nicht ausreicht, um sich gewisse Wünsche und Ziele zu erfüllen. Die konkrete Angst vor der Arbeitslosigkeit an sich besteht aber so eher nicht.

Welchen Einfluss haben Medien und politische Entwicklungen auf die Ängste und Sorgen der Kinder?
Also wenn ich jetzt die Attentate von Paris als Beispiel nehme, dann muss ich sagen, dass so etwas wenig bis gar keinen Einfluss hatte in unserer Beratung. Seitdem hatten wir ganz vereinzelt Anfragen, wie man damit jetzt umgehen muss. Aber grundsätzlich machen sich die jungen Leute um ganz andere Dinge Sorgen.

Die Flüchtlingsthematik geht aber doch wohl kaum spurlos an ihnen vorbei.
Das beschäftigt die Kinder schon, aber weniger im Sinne von sich Sorgen machen oder das Ganze als Problem betrachten. Sondern viel mehr von einer sehr neugierigen Sichtweise her. Das sind dann eher die jüngeren Kinder zwischen neun und dreizehn Jahren, die sich bei uns melden und ganz pragmatische Fragen stellen im Stil von: «Wie lernen die denn jetzt Deutsch?»

Das Hauptklientel von Annelis Habegger: Jugendliche zwischen 12 und 17 Jahren.
Das Hauptklientel von Annelis Habegger: Jugendliche zwischen 12 und 17 Jahren.
Bild: pro juventute

Sie sind seit zehn Jahren in der Telefonberatung für Kinder und Jugendliche tätig. Wie haben sich die Ängste und Sorgen in dieser Zeit verändert?
Liebe, Sexualität, Familie und Freunde sind Themen, welche die Jugendlichen immer beschäftigen. Wir haben aber in den letzten Jahren festgestellt, dass schwere persönliche Probleme in der Beratung an Bedeutung zugenommen haben. Dazu gehören zum Beispiel Krisen, Ängste, psychische Erkrankungen sowie Autoaggression oder gar Suizidgedanken. Diese Fragen sind oft sehr spezifisch und da suchen die Jugendlichen jemanden, mit dem sie direkt sprechen können. Die eher allgemeinen Fragen kommen heute nicht mehr so häufig, weil sich die Jugendlichen diesbezüglich beispielsweise im Internet selbst schlau machen.

Können Sie ein konkretes Beispiel machen?
Ja. Früher hat man uns schlicht und einfach gefragt «Wie funktioniert Sex?» oder «Welche Stellungen gibt es?» Das finden die Jugendlichen jetzt auch ohne uns heraus. Dafür machen sie sich Gedanken darüber, ob gewisse Körperteile gut genug sind. Weil sie vielleicht ein Video oder Bilder gesehen haben, die sie ins Grübeln gebracht haben. Und darüber reden sie dann mit uns.

Also wird das Sorgentelefon langsam aber sicher vom Internet abgelöst.
Wir sind ja inzwischen auch breiter abgestützt und haben nicht mehr nur das Sorgentelefon. Die Kinder und Jugendlichen erreichen uns auch per Chat, SMS und E-Mail. Bei diesen Kanälen ist die Anonymität noch etwas grösser – und die Hemmschwelle entsprechend kleiner. Insgesamt werden aber all unsere Kanäle sehr regelmässig genutzt. Pro Tag erreichen uns im Schnitt 400 Anfragen.

Die Notrufnummer «147» von Pro Juventute
Jeden Tag wenden sich mehr als 400 Kinder und Jugendliche an die «147». Die meisten Anfragen kommen über Telefon (45 Prozent) sowie über das Web (49 Prozent). Noch deutlich geringer, aber kontinuierlich zunehmend sind Anfragen über SMS (5 Prozent), Email (0,5 Prozent) und den Chat (0,5 Prozent). Mehr als 70 professionelle Beraterinnen und Berater in Bern, Lausanne und Giubiasco stellen sicher, dass die Kinder und Jugendlichen rund um die Uhr jemanden haben, an den sie sich wenden können.

Wie alt sind die Kinder und Jugendlichen, die sich bei Ihnen melden?
Unsere Anrufer und Anruferinnen sind zwischen 9 und 24 Jahre alt – die meisten jedoch zwischen 12 und 17 Jahre. Das hat sich in den letzten Jahren etwas verändert: Früher haben wir die Altersgruppe ab 18 Jahren aufwärts an andere Stellen weiterverwiesen. Aber dann wurde beschlossen, dass auch die älteren Jugendlichen mit ihren Sorgen gut bei uns aufgehoben sind. Somit ist der Altersdurchschnitt gestiegen – und damit auch die Schwere der Probleme.

Warum das?
Nach meiner Erfahrung melden sich die jüngeren Kinder häufiger mit solchen «Gwunder»-Fragen, sie sind einfach neugierig. Bei den Jugendlichen sind die Probleme deutlich schwerwiegender, beispielsweise wenn es um Suizidgedanken geht.

Was tun Sie in solchen Fällen?
Das ist jedes Mal eine Einzelabwägung und in jedem Fall holen wir eine Zweitmeinung im Kollegium ein. Es geht immer darum, herauszufinden, wie ernst es die Person meint. Oftmals ist es ja «nur» ein erstes Gedankenspiel im Stil von «Ich habe das Gefühl, es wäre besser, wenn ich gar nicht mehr leben würde». Die meisten sind zum Glück weit davon entfernt, sich wirklich das Leben zu nehmen. Aber auch den Gedanken allein müssen wir ernst nehmen und versuchen, die Person dazu zu bringen, sich professionelle Hilfe zu holen.

Der Austausch unter Kollegen spielt für das Beratungsteam eine wichtige Rolle. 
Der Austausch unter Kollegen spielt für das Beratungsteam eine wichtige Rolle. 
Bild: pro juventute

Was, wenn es tatsächlich soweit ist, dass der oder die Jugendliche sich etwas antun möchte?
Dann schalten wir die Polizei ein.

Aber das Gespräch findet doch anonym statt.
An und für sich schon, ja. In einem Ernstfall dürfen wir trotzdem die Telefonnummer der Polizei für eine Zurückverfolgung herausgeben.

Jugend
AbonnierenAbonnieren

Wie oft kommt so etwas vor?
Im letzten Jahr war das 56 Mal der Fall. Das hat über die letzten Jahren kontinuierlich zugenommen. Das Thema Suizid taucht bei uns praktisch jeden Tag auf, im Schnitt sind es mehr als zwei Kinder oder Jugendliche, die sich jeden Tag mit Suizidgedanken an uns wenden. Natürlich in unterschiedlich starken Dimensionen – also von einem ersten Gedanken daran bis hin zum konkreten Plan.

Aber bei den kleineren Kindern sind die gemeldeten Probleme weniger schwerwiegend.
Im Grossen und Ganzen schon. Aber auch da gibt es natürlich Ausnahmefälle, wenn sich beispielsweise ein Kind bei uns meldet, weil seine Eltern am Streiten sind und es deswegen Angst hat.

Auch jüngere Kinder machen von der «147» Gebrauch. 
Auch jüngere Kinder machen von der «147» Gebrauch. 
Bild: pro juventute

Was tun Sie in einem solchen Fall?
In erster Linie versuchen wir, das Kind zu beruhigen, fordern es auf, die Tür zum Kinderzimmer zu schliessen, vielleicht mit einem Teddybär zu kuscheln oder sich sonst irgendwie abzulenken. Und dann geht es natürlich darum, dass so etwas nicht noch einmal passiert. Also fragen wir das Kind, ob es sich am nächsten Tag an eine andere Person – zum Beispiel an einen Verwandten, einen Götti oder an eine Lehrerin – wenden kann.

Richtig viel können Sie so aber eigentlich nicht tun.
Das stimmt, und das ist auch das Schwierigste an diesem Beruf. Ich hatte mal so einen Fall von einem kleinen Bueb, dessen Eltern am Streiten waren. Das habe ich im Hintergrund deutlich gehört. Natürlich habe ich versucht, ihn zu trösten, aber in diesen Situation sind auch wir ziemlich ohnmächtig. Die kleineren Kinder erwarten vom Sorgentelefon eine Art direkte Heilung – aber die können wir ja gar nicht bieten. Das ist kein schönes Gefühl, wenn man merkt, dass sich das Kind viel mehr erhofft hatte – und dann enttäuscht wird. Bei den meisten Anrufenden ist es aber so, dass es ihnen schon sehr viel hilft, wenn sie mit jemandem sprechen können und aus dem Gespräch Möglichkeiten mitnehmen, wie sie mit ihren Sorgen umgehen können.

Kommt es vor, dass Sie Gefährdungsmeldungen an die KESB machen?
Wir selbst dürfen das gar nicht. Aber es kommt vor, dass wir die Kinder oder Jugendlichen dazu ermutigen, es selbst zu tun. Umgekehrt gibt es aber auch Kinder, die uns konkret darum bitten. Dann dürfen wir zwar immer noch nicht die Meldung vornehmen, können aber die Verbindung zwischen dem Kind und der KESB herstellen, damit es den Fall selbst melden kann.

Du hast watson gern?
Sag das doch deinen Freunden!
Mit Whatsapp empfehlen
DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Das könnte dich auch noch interessieren:
8 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Yelina
23.12.2015 09:53registriert Juli 2014
Das Sorgentelefon ist der Hauptgrund, weshalb ich seit Jahren die Pro Juventute mit Spenden unterstütze. Meiner Meinung nach eine super wichtige Sache für die Jungen, heute wie früher.
780
Melden
Zum Kommentar
8
Helferin von belgischem Drogenboss in Zürich wegen Geldwäscherei verurteilt

Das Bezirksgericht Zürich hat am Donnerstag eine 36-jährige Schweizerin wegen Geldwäscherei verurteilt. Die Treuhänderin aus der Ostschweiz ist Teil des Netzwerks, das dem belgischen Drogenboss Flor Bressers ein Leben in der Schweiz ermöglichte.

Zur Story