Schweiz
Interview

NZZ-Chef Gujer zu Shitstorm: «Die einen schreien ‹Lügenpresse›, die anderen ‹Nazis›»

Die NZZ provozierte mit einem Artikel viele Reaktionen im Netz.
Die NZZ provozierte mit einem Artikel viele Reaktionen im Netz. bild: watson/screenshot
Interview

NZZ-Chef Gujer zu Shitstorm: «Die einen schreien ‹Lügenpresse›, die anderen ‹Nazis›»

NZZ-Chefredaktor Eric Gujer äussert sich zum Vorwurf, seine Zeitung umwerbe in Deutschland Rechtspopulisten.
18.07.2019, 05:26
Patrik Müller / CH Media
Mehr «Schweiz»

Als Eric Gujer vor vier Jahren die Chefredaktion der «Neuen Zürcher Zeitung» übernommen hat, schärfte er ihren bürgerlich-liberalen Kurs – und begann, mit digitalen Angeboten gezielt auch Leser in Deutschland anzusprechen. Regelmässig macht die NZZ nun im Nachbarland von sich reden, oft mit konservativen Kommentaren und Beiträgen gegen die politische Korrektheit, wie sie in der linksliberal geprägten deutschen Medienlandschaft kaum zu finden sind. Gujer (57) war früher Korrespondent in Deutschland, Israel und Russland und leitete das Auslandressort der NZZ.

Eric Gujer, chief editor of the Neue Zuercher Zeitung (NZZ), in the committee room at the Falkenstrasse in Zurich, Switzerland, on May 22, 2015. (KEYSTONE/Christian Beutler)

Eric Gujer, Chefredaktor  ...
Mag keine Etiketten und Schablonen: NZZ-Chefredaktor Eric Gujer. Bild: KEYSTONE

Die NZZ provoziert in Deutschland mit politisch konservativen Artikeln regelmässig Reaktionen. Die linke Zeitung «taz» stellte fest, es gebe in Deutschland einen «Hype um die NZZ». Wie erklären Sie sich das?
Eric Gujer: Die Leserinnen und Leser sind offenkundig neugierig auf unsere nüchtern-kritische Berichterstattung über Deutschland und die Welt. Wir bieten auf einer eigenen Seite für deutsche Kunden eine ausgebaute Berichterstattung unseres Berliner Büros und wir hören immer wieder, wir sollten davon noch mehr machen. Ja, wir sind dabei manchmal sehr kritisch, aber das sind deutsche Medien gegenüber der Schweiz auch. So schrieb der «Spiegel» kürzlich: «Warum die Schweiz zu den rückständigsten Ländern Europas zählt». Lasst uns in Europa diskutieren, wo unsere Stärken liegen und unsere Schwächen! Die Schweiz muss sich da nicht verstecken. Die NZZ ist in dieser Diskussion allerdings die einzige Schweizer Stimme, die in Deutschland Gehör findet.

«Die Leserinnen und Leser sind offenkundig neugierig auf unsere nüchtern-kritische Berichterstattung über Deutschland und die Welt»
Eric Gujer

«Für mich ist die NZZ so etwas wie ‹Westfernsehen›», twitterte der frühere Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maassen. Warum hat sich die NZZ von diesem Label distanziert?
Weil es impliziert, dass die deutschen Medien «Ostfernsehen» sind. Und wer je die Medien der DDR gelesen oder gesehen hat, weiss, dass dieser Vergleich völlig schief wäre. Ausserdem mag ich solche Etiketten und Schablonen nicht, weil sie das Denken zu einfach machen.

Mit den politisch inkorrekten Artikeln, etwa über Migration, holen Sie in Deutschland viele Klicks - und wohl auch Abonnements. Insofern profitieren Sie doch von diesem Label?
Die NZZ profitiert in Deutschland davon, dass sie klar bürgerlich-liberale Positionen vertritt und gegenüber rechts wie links gleichermassen kritisch ist. Wir müssen deshalb mit Kritik von beiden Seiten leben. So provozierte kürzlich ein Kommentar einen Shitstorm bei offensichtlichen AfD-Anhängern, weil wir die enthemmte Sprache der Partei kritisiert und gefragt hatten, inwieweit das rechtsextremer Gewalt Vorschub leistet.

Wie wichtig ist Deutschland als Markt für die NZZ?
Die NZZ hat ein in der Schweizer Zeitungslandschaft einzigartiges Korrespondentennetz. Mittelfristig können wir dies nicht allein aus dem kleinen Schweizer Markt finanzieren. Man hat dann zwei Möglichkeiten. Entweder man macht es so wie der «Tages-Anzeiger» und übernimmt die Korrespondenten der «Süddeutschen Zeitung» und damit den deutschen Blick. Oder man versucht, den Schweizer Blick in Deutschland zu verbreiten und damit im deutschen Markt Geld zu verdienen. Wir haben gegenwärtig rund 14 000 Abonnenten in Deutschland und wachsen von Monat zu Monat. Gleichzeitig erfolgt ein Drittel der Besuche auf nzz.ch von Lesern und Leserinnen aus Deutschland.

Wie viel Wahrheit steckt in Maassens Aussage? Gibt es in der deutschen Medienlandschaft nicht zunehmend Einheitsbrei?
Ich würde es nicht Einheitsbrei nennen, aber bei bestimmten Fragen liegen die Positionen sehr eng beieinander. Besonders augenfällig war dies auf dem Höhepunkt des Flüchtlingsstroms 2015/2016. Da verteidigten die meisten Medien vehement die «Willkommenskultur» und analysierten nicht, dass das zu einer Gegenbewegung führen würde. Wir haben frühzeitig davor gewarnt, dass eine unkontrollierte Migration den Rechtspopulisten Auftrieb geben wird. Das ist dann auch leider eingetreten.

Sie lebten lange in Deutschland. Wie hat sich die Medienlandschaft verändert?
Es hat sich weniger die Medienlandschaft als die Gesellschaft insgesamt verändert. Die Polarisierung hat in den letzten Jahren massiv zugenommen und damit die Neigung, nur noch die eigene Meinung gelten zu lassen. Die einen schreien «Lügenpresse», die anderen «Nazis». Beide Seiten treten extrem moralisierend auf. In diesem Klima hat es eine offene Debatte natürlich schwer.

Einen kleinen Shitstorm löste ein Artikel aus, in dem es hiess, in deutschen Städten gebe es immer weniger «Ur- oder Biodeutsche». Darauf wurde der NZZ vorgeworfen, sich bei der AfD-Kundschaft anzubiedern. Ging dieser Text zu weit?
Der Duden definiert das Wort «Bio-Deutscher» ganz neutral: mit deutscher Herkunft und in Deutschland lebend. Überdies ist es sachlich zutreffend, dass Deutsche ohne Migrationshintergrund in vielen Städten in der Minderheit sind. Dennoch haben wir uns dafür entschieden, den Begriff in einer zweiten Version zu entfernen. Wir bedauern, dass der Begriff im Umfeld eines so kontroversen Themas wie der Migration zu Missverständnissen geführt und Emotionen geweckt hat. Niemand sollte sich an einem einzelnen Wort festbeissen, auch die NZZ nicht. Wer auf seine Leser eingeht, nimmt sie ernst und steigert so seine Glaubwürdigkeit.

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Sieg Fail: So doof sind Nazis
1 / 14
Sieg Fail: So doof sind Nazis
Nein, nicht «Bingo». Auch das ist falsch. Das passiert, wenn ein Nazi ein Bild von einem Nazi, der versucht hat, ein Nazi-Symbol zu zeichnen, ins Internet stellt.
Auf Facebook teilenAuf X teilen
Der US-Soldatenfriedhof in Frankreich
Video: srf
Das könnte dich auch noch interessieren:
82 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Hierundjetzt
18.07.2019 08:42registriert Mai 2015
Man mag, wie ich, die Bleiwüste von der Falkenstrasse nicht unbedingt mögen.

Aber, Ihr top Korrespondentennetz ist unerreicht. Das ist einer der richtigen Stärken der NZZ

Und ja, was der Tagi oder Watson macht (Übernahme der Deutschen Perspektive ohne schweizerische Einordnung) ist nicht immer sinnvoll.

Es geht dabei nicht um Deutschland sondern um die Adaption in die schweizerische Lebensrealität.
12129
Melden
Zum Kommentar
avatar
Stambuoch
18.07.2019 09:39registriert März 2015
Die Kommentare hier drin beweisen es einmal mehr: Man will in seiner Meinungsbubble ungestört bleiben, alles, was dem nicht entspricht, wird verteufelt und verunglimpft.

Unerhört, dass es Leute gibt, die andere Meinungen haben! Rechts und Links haben da massive probleme damit.

Ich schätze die NZZ eben weil sie nicht wie die Tagi-Gruppe Leistungen aus Deutschland einkauft und so versucht uns den deutschen Blick als schweizerischen zu verkaufen. Gerade deshalb ist eine NZZ aber auch eine WoZ so wertvoll. Sie haben noch eigene Meinungen und einen eigenen Blick.
8028
Melden
Zum Kommentar
avatar
Majoras Maske
18.07.2019 07:31registriert Dezember 2016
Unter dem letzten Chefredaktor schätzte ich die NZZ sehr. Zwar war ich oft nicht derselben Meinung, aber die Analysen waren gut.
Unter Gujer die NZZ zu lesen ist aber eine Qual. Es ist gar nicht so lange her, da setzte die NZZ z. B. Klimaleugner prominent in Szene ohne sie kritisch zu hinterfragen.
Ich glaube nicht, dass die NZZ über "die schweizerische Perspektive" verfügt und ich glaube dass dieser "schweizer Blick" in der Schweiz auch immer weniger geschätzt wird. Die NZZ hat mit der Neuausrichtung auch viele bürgerliche Leser verloren. Schade, dass das Traditionsblatt so endet.
203158
Melden
Zum Kommentar
82
Axpo prüft Betrieb des Kernkraftwerks Beznau über 2030 hinaus

Der Stromkonzern Axpo prüft einen Betrieb der beiden ältesten Schweizer Atomreaktoren Beznau im Kanton Aargau über das Jahr 2030 hinaus. Laut Axpo geht es den Abklärungen um die technische Machbarkeit. Die Sicherheit stehe an oberster Stelle und sei nicht verhandelbar.

Zur Story