Schweiz
Interview

Ehemaliger Gerichtspräsident fordert weitreichende Justizreform

Interview

«Die Schweiz braucht eine grosse Justizreform»

Markus Metz war Präsident des grössten Gerichts der Schweiz, des Bundesverwaltungsgerichts. Es sei viel zu gross, findet er. Gleich mehrere Institutionen der Bundesjustiz würde er massiv verkleinern und mehr Aufgaben wieder den Kantonen geben.
06.10.2020, 05:3719.10.2021, 15:52
Andreas Maurer / ch media
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Der Ruf der Justiz des Bundes ist beschädigt. Der Bundesanwalt musste zurücktreten, weil er im Amt versagt hat. Der Bundesgerichtspräsident musste in den Ausstand treten, weil er sich in einer Untersuchung unflätig geäussert hat. Mehrere Bundesstrafrichter mussten sich erklären, weil sie in interne Intrigen verwickelt waren. Und bei den Richterwahlen griff die SVP einen eigenen Bundesrichter an, weil er nicht auf Parteilinie urteilte.

Markus Metz, ehemaliger Präsident des Bundesverwaltungsgerichts.
Markus Metz, ehemaliger Präsident des Bundesverwaltungsgerichts.bild: urs bucher

Markus Metz kennt die Justiz von innen. Er war Präsident des grössten Gerichts des Landes, des Bundesverwaltungsgerichts. Im Rückblick stellt er fest, dass die Institution viel zu gross und zu träge sei. In seiner Villa in Binningen BL empfängt der 72-Jährige zum Gespräch und skizziert seine Ideen für einen radikalen Umbau.

Welchen Eindruck macht die Bundesjustiz derzeit auf Sie?
Markus Metz: Die Justiz des Bundes hinterlässt bei mir insgesamt einen guten Eindruck. Ich sehe aber verschiedene Baustellen. Diese sind allerdings weitgehend personenunabhängig. Es sind institutionelle Probleme.

Wo sehen Sie das Hauptproblem?
Die eidgenössischen Gerichte müssen sich mit zu vielen kleinen Rechtsstreitigkeiten befassen. Beginnen wir beim Bundesgericht. Das Ansehen unseres höchsten Gerichts leidet darunter, dass es sich ständig mit Nebensächlichkeiten anstatt mit Grundsatzentscheiden beschäftigen muss.

Das Bundesgericht in Lausanne: Es ist die höchste richterliche Behörde der Schweiz. 57 Richter kontrollieren die Rechtsprechung der drei anderen eidgenössischen Gerichte und jene der Kantone.
Das Bundesgericht in Lausanne: Es ist die höchste richterliche Behörde der Schweiz. 57 Richter kontrollieren die Rechtsprechung der drei anderen eidgenössischen Gerichte und jene der Kantone.Bild: bundesgericht

Entlastung hätte eine kleine Justizreform bringen sollen, die aber kürzlich gescheitert ist.
Deshalb schlage ich ein anderes Vorgehen vor: Die Schweiz braucht eine grosse Justizreform, die alle eidgenössischen Gerichte umfasst. Die Justiz ist ein wesentlicher Pfeiler unseres Rechtsstaats und für den Standort Schweiz von enormer Bedeutung. Deshalb sollte man periodisch überprüfen: Hat die Justiz den Stellenwert, den sie verdient?

Ist Beständigkeit nicht eine Stärke der Justiz?
Nein, eine Stärke der Justiz ist, dass sie sich den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen anpassen kann.

Was schlagen Sie vor?
Man sollte die Kompetenzen der Bundesanwaltschaft und des Bundesstrafgerichts reduzieren und viel mehr Fälle wieder den kantonalen Staatsanwaltschaften und Gerichten übergeben. Die Kantone machen das sehr gut und hatten diese Kompetenzen schon in der Vergangenheit. Ich sehe keinen Grund, weshalb der Bundesanwalt für so viele Fälle zuständig sein soll. Er sollte sich nur noch um die allergrössten und die allerwichtigsten Fälle kümmern wie internationalen Terrorismus und grosse internationale Geldwäscherei. In den übrigen grösseren Fällen könnte er den Kantonen koordinierend zur Seite stehen. Das genügt. So könnte man die Bundesanwaltschaft um ungefähr die Hälfte reduzieren und folglich auch das Bundesstrafgericht entsprechend verkleinern.

Ein mutmasslicher IS-Terrorist muss sich seit Dienstag vor dem Bundesstrafgericht in Bellinzona verantworten. (Archivbild)
Das Bundesstrafgericht in Bellinzona: 34 Richter beurteilen Straffälle des Bundes in erster und zweiter Instanz. Dazu gehören die Anklagen der Bundesanwaltschaft.Bild: sda
Vom Pharmajuristen zum Richter
Von der Pharma zum Gericht Markus Metz ist in Chur aufgewachsen und für das Rechtsstudium nach Basel gezogen. Ein weiterer Grund: Seine Mutter war Baslerin. Zuerst arbeitete er in der Industrie, in der Rechtsabteilung von Ciba-Geigy, und später als Anwalt und Strafrichter in Baselland.

2007 wurde er ans frisch gegründete Bundesverwaltungsgericht gewählt, das er von 2011 bis 2014 präsidierte. Heute beschäftigt sich der 72-Jährige als Autor von Fachartikeln mit Justizfragen. Ausserdem hat er ein Grosskind, spielt Cello und reist gerne, etwa in sein Ferienhaus auf Mallorca, wo er derzeit auch hinfliegt, obwohl er danach zehn Tage in Quarantäne muss. (mau)

Viele Kantone wären bereit, diese Kompetenzen zu übernehmen, fürchten aber die Mehrkosten.
Das sind Bedenken, die ich verstehen kann. Der Bund müsste die Kantone allenfalls finanziell unterstützen.

Am grössten ist das Bundesverwaltungsgericht. Müsste es ebenfalls verkleinert werden?
Ja, das Bundesverwaltungsgericht ist viel zu gross. Man könnte es ganz einfach verkleinern. Im Sozialversicherungsbereich macht es dasselbe wie die Kantone. Bei der AHV und IV ist es zuständig für Personen, die im Ausland wohnen. Diese wenden sich an eine Stelle in Genf und gelangen dann ans Bundesverwaltungsgericht. Das sind 700 Fälle pro Jahr. Diese könnten jene Kantone übernehmen, in denen die Leute ihren letzten Arbeitsort vor dem Wegzug hatten. Auch im Ausländerrecht könnte das Bundesverwaltungsgericht viele Materien den Kantonen zum Vollzug überlassen. Vielleicht müsste sogar ein spezielles Ausländergericht geschaffen werden.

Das Bundesverwaltungsgericht hat die Beschwerde eines Opfers fürsorgerischer Zwangsmassnahmen gegen die Ablehnung des Solidaritätsbeitrags abgewiesen. (Archivbild)
Das Bundesverwaltungsgericht in St. Gallen: 76 Richter beurteilen Beschwerden gegen Verfügungen von Bundesbehörden und gegen einige kantonale Entscheide.Bild: KEYSTONE

Woran merkten Sie als Präsident des Bundesverwaltungsgerichts, dass die Institution zu gross ist?
Bei der Kohärenz der Rechtsprechung. Bei über 70 Richtern ist es viel schwieriger, eine einheitliche Rechtsprechung zu erzielen, als wenn es weniger wären. Zudem ist die Führung der sechs Abteilungen umständlich. Das Gericht würde schneller werden, wenn es intern nicht so viel Aufwand betreiben müsste.

Warum haben Sie keine Reform angestossen, als Sie im Amt waren?
Es war nicht die richtige Zeit, weil die Erfahrung fehlte. Das Gericht befand sich noch im Anfangsstadium. Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt, um eine grosse Reform anzudenken.

Müsste auch das Wahlverfahren überarbeitet werden?
Ja, alle eidgenössischen Richter sollten bis zur Pensionierung gewählt werden mit einer Abberufungsmöglichkeit bei Amtspflichtverletzungen. So löst man das Problem, dass Richter vor der Wiederwahl unter Druck gesetzt werden können. Gleichzeitig müsste man ein professionelles Assessment einführen. Als Präsident des Bundesverwaltungsgerichts habe ich folgende Erfahrung gemacht: Wenn wir Probleme hatten, dann lagen diese nie auf der fachlichen Ebene, sondern betrafen die Sozialkompetenz der Kolleginnen und Kollegen.

Eine Wahl bis zur Pensionierung ist eine Forderung der Justizinitiative. Der Bundesrat lehnt diese ohne Gegenvorschlag ab. Ist das die richtige Strategie?
Nein, wir haben bei den Richterwahlen mehrere Probleme, die wir angehen sollten. Sie werden zu stark personalisiert. Und die Abhängigkeit zwischen Richterinnen und Richtern und ihren Parteien ist zu gross. Das ist allerdings von Partei zu Partei unterschiedlich. Ich war in der FDP. Ich habe nie Mandatssteurern gezahlt.

Sie haben in Ihrer Karriere also nicht wie üblich einen Teil ihres Lohns der Partei abgegeben?
Nie. Ich wurde auch nie darum gebeten. Es sind in erste Linie die SVP und die SP, die von Mandatssteuern leben.

Sollte man diese verbieten?
Ja. Die Parteien sollten sich anders finanzieren. Das würde die Unabhängigkeit der Justiz stärken. Dass Richter Mitglieder in einer Partei sind, finde ich aber richtig. So weiss ich, aus welcher Ecke ein Richter seine politischen Überzeugungen ins Amt bringt. Das schafft Transparenz. In den meisten Fällen spielt die Parteizugehörigkeit ohnehin keine Rolle.

Wenn es Probleme an Gerichten gibt, sind dafür mehrere Aufsichtsgremien zuständig. Funktioniert das gut?
Nein. Ich rege an, dass das Parlament eine Aufsichtskommission bildet, die alle eidgenössischen Gerichte und die Bundesanwaltschaft überwacht. Heute kontrolliert das Bundesgericht einerseits die Rechtsprechung der erstinstanzlichen Gerichte des Bundes und übt andererseits auch die administrative Aufsicht über diese aus. Das beisst sich. Dass die Aufsicht über die Bundesanwaltschaft nicht richtig funktioniert, haben wir in den vergangenen Monaten ebenfalls gesehen.

Die Oberaufsicht üben heute die Geschäftsprüfungskommissionen aus. Werden diese der Aufgabe nicht gerecht?
Die Geschäftsprüfungskommissionen haben so viel zu überprüfen, dass sie sich möglichst wenig mit der Justiz beschäftigen wollen. Das verstehe ich. Es braucht deshalb bessere Strukturen.

Reformdebatten entstehen regelmässig, bewirken aber oft wenig.
Das befürchte ich auch diesmal. Aktuell macht man immer dort punktuelle Reformen, wo es gerade am meisten brennt, ohne das Gesamtbild anzuschauen. Gerade die heutige Zeit wäre aber geeignet, um die Bundesrechtspflege grundsätzlich zu überdenken. Die Justiz hat es verdient, dass wir uns alle zwanzig bis dreissig Jahren überlegen, ob sie noch richtig aufgestellt ist. Jetzt bräuchte es ein paar leidenschaftliche Parlamentarier, die etwas verändern wollen.

Wer könnte das sein?
Ich denke an FDP-Ständerat Andrea Caroni oder SP-Nationalrat Matthias Aebischer. Die Debatte müsste aber über die Politik hinaus gehen und auch Wissenschafter und ehemalige und aktuelle Bundesgerichtspräsidenten einbeziehen. (aargauerzeitung.ch)

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Fünf Pannen und Fehlentscheide in Justiz und Vollzug der letzten fünf Jahre
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Fünf Pannen und Fehlentscheide in Justiz und Vollzug der letzten fünf Jahre
1. Am 25. August 2008 wird Daniel H. aus einer Massnahme für junge Erwachsene im Baselbieter Arxhof entlassen. H. musste sich lediglich einer ambulanten Therapie unterziehen und sich regelmässig bei seiner Bewährungshelferin melden. Den Hauptrisikofaktor für einen Rückfall orteten Vollzugsbehörde und Bewährungshilfe in H.s Suchtverhalten. Anderer Risikofaktoren, wie Sexualpräferenzen und psychischer Störung, war sich niemand bewusst. Am 4. März 2009 tötete Daniel H. das Au-Pair Lucie Trezzigni in seiner Wohnung in Rieden bei Baden. Der Untersuchungsbericht zeigte, dass die in einem Verein organisierte Bewährungshilfe nicht mit den nötigen Informationen versorgt worden war. (KEYSTONE/Illustration Linda Graedel) ... Mehr lesen
quelle: keystone / steffen schmidt
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17 Kommentare
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winglet55
06.10.2020 09:07registriert März 2016
Im gleichen Atemzug bitte auch das SCHKG auch reformieren. Damit in Zukunft ein Arbeitgeber nicht Leute freistellen kann, die Betriebs AG Konkurs gehen lassen und mit einer neuen AG den Betrieb weiterführen kann. Ist mir und 16 Arbeitskollegen dieses Frühjahr passiert. Fast vergessen vor der stillen Nachlassstundung noch den Covid-19 Kredit abgeholt.
Die Unterlagen liegen seit geraumer Zeit beim Limmattaler, interessiert anscheinend niemand! Wohl weil ein "angesehener" Geschäftsmann involviert ist!
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CogitoErgoSum
06.10.2020 05:59registriert August 2018
Viele Urteile von "kleineren" Fällen werden erst auf höchster Instanz richtiggestellt. Da sollen in Zukunft die Kantone, allenfalls durch Eigeninteressen befangen, das letzte Wort haben?
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