Das SEM schliesst aufgrund der tiefen Asylgesuchszahlen temporär zwei Unterkünfte. Die Massnahme angeordnet hat Ihre Chefin Karin Keller-Sutter. Täuscht der Eindruck, oder steht das SEM seit Keller-Sutters Amtsantritt unter verstärktem Druck?
Mario Gattiker: Die Zusammenarbeit mit Frau Keller-Sutter ist sehr gut. Sie bringt eine grosse Erfahrung in der Asylpolitik mit. Die Bundesrätin hat auf die aktuelle Lage reagiert. Es ist absolut verantwortbar, Kapazitäten zu reduzieren. Mit dieser Massnahme können wir pro Jahr 30 Millionen Franken sparen. Bei Bedarf können wir die Strukturen rasch wieder hochfahren.
Die Asylzahlen sind tief, das Sterben im Mittelmeer geht aber weiter. Deutschland hat sich bereit erklärt, einen Teil der aus Seenot geretteten Menschen aufzunehmen. Warum zeigt sich die Schweiz nicht solidarisch?
Wir haben während der Flüchtlingskrise gezeigt, dass wir sehr solidarisch sind. Unter anderem durch die Aufnahme von 1500 Personen aus Griechenland und Italien. Wir erachten es aber als falsch, wenn Personen ab den Booten auf die Länder verteilt werden, auch wenn sie keine Asylgründe haben und das trifft auf viele der anlandenden Personen zu. Hier braucht es bereits im Ankunftsland rasche Asylverfahren und eine konsequente Rückführung. Zielführender als kurzfristige Lösungen wäre eine Reform des Dublin-Systems. Es braucht unbürokratischere und schnellere Verfahren sowie einen Mechanismus, mit dem die Staaten an der Aussengrenze in Krisensituationen entlastet werden.
Bemühungen für eine Reform des Dublin-Systems gibt es seit Jahren – ohne Resultat. Warum soll dies demnächst gelingen?
Bei der Frage der Lastenverteilung ist Europa seit der Flüchtlingskrise tatsächlich nicht viel weiter gekommen. Und nicht nur dort. Es bräuchte zudem eine einheitliche Asylpraxis. Es kann nicht sein, dass Personen aus Afghanistan in einem Land in 90 Prozent der Fälle ein Bleiberecht erhalten und in einem anderen in 40 Prozent. Solche Unterschiede führen zu innereuropäischen Wanderungen. Ich hoffe, dass die neue EU-Kommission neuen Wind und neue Ansätze bringt.
Keller-Sutter verlangt zudem mehr Rückführungen von abgewiesenen Asylsuchenden, von denen sich derzeit rund 4800 im Land befinden. Hier kann die Schweiz alleine aber nichts ausrichten, wenn die Herkunftsstaaten die Kooperation verweigern.
Ja, wir sind auf Kooperation angewiesen. Aber nicht nur. Wir können selber auch dazu beitragen: Beispielsweise mit den beschleunigten Verfahren und einer Rückkehrhilfe, die früher ansetzt. Die Vollzugsquote bei den Rückweisungen ist in der Schweiz deutlich höher als im europäischen Durchschnitt. Mit dem Grossteil der Herkunftsstaaten funktioniert die Zusammenarbeit gut. Selbst mit jenen, mit denen wir keine Rückübernahmeabkommen haben.
Es gibt aber auch Problemländer, zum Beispiel Algerien. Alleine in dieses nordafrikanische Land sind rund 600 Rückführungen hängig, nur 25 wurden im laufenden Jahr vollzogen, dazu kommen 75 selbstständige Ausreisen. Wie lassen sich diese Zahlen erhöhen?
Bei Algerien kommen zwei Faktoren zusammen: Einerseits haben wir viele abgewiesene Asylsuchende, die nicht kooperieren. Andererseits akzeptiert Algerien keine Sonderflüge. Bei Rückführungen per Linienflug können wir mit einer stärkeren Präsenz am Flughafen nachhelfen. Aber wir haben immer wieder Fälle, die wir nicht lösen können. Manchmal handelt es sich auch noch um kriminelle Personen. Das ärgert mich auch persönlich sehr. Wir haben daher entschieden, mehr Ressourcen zur Unterstützung der Kantone im Vollzug bereit zu stellen sowie zu prüfen, in welchen Auslandvertretungen das SEM zusätzliche Verbindungsleute zwecks Förderung der Rückkehr eingesetzt werden sollen.
Der «Blick» berichtete diese Woche über abgewiesene Asylsuchende aus Algerien und Marokko, die in der Schweiz Delikte begehen. Lassen wir uns auf der Nase herumtanzen?
Dieser Eindruck kann entstehen. Es handelt sich um Personen, die sich nicht an die Rechtsordnung halten und die wir trotzdem nur schwer zurückführen können. Das fängt schon bei der Identifikation an. Gemäss den marokkanischen Behörden ist es keineswegs sicher, dass er tatsächlich Marokkaner ist. Das sind komplizierte Prozesse, bei denen ich aber keinen Aufwand scheue. Für mich als Migrationschef ist es nicht akzeptabel, wenn sich Herkunftsstaaten weigern, ihre eigenen Landsleute zurückzunehmen.
Könnte man nicht auch Druck auf die Herkunftsstaaten erhöhen? SVP-Fraktionschef Thomas Aeschi schlägt vor, Mitgliedern des marokkanischen Königshauses die Einreise zu verweigern, wenn sich das Land weiterhin unkooperativ verhält.
Man muss alle Optionen prüfen. Mittel- und langfristig ist ein guter Dialog aber sicher zielführender. Das zeigt beispielsweise die sehr positive Entwicklung mit Nigeria. 2011 war die Situation noch völlig blockiert. Heute funktionieren die Rückübernahmen reibungslos. Isolierte Visasanktionen der Schweiz bringen zudem nicht viel. Denn wenn ein anderer Schengen-Staat ein Visum ausstellt, dann kann die Person trotzdem in die Schweiz einreisen. Deshalb begrüssen wir den neuen europäischen Visakodex. Ab 2020 sollen Visa-Anfragen aus unkooperativen Staaten restriktiver gehandhabt werden. Das ist ein Durchbruch.
Themawechsel: Die Sozialpartner suchen derzeit beim Rahmenabkommen eine gemeinsame Basis. Sie nehmen an den Gesprächen teil. In welcher Rolle?
Ich habe mit den Sozialpartnern diesen Frühling intensiv zusammengearbeitet, als es im Zusammenhang mit der Begrenzungsinitiative um Massnahmen für ältere Arbeitskräfte ging. Nun nehme ich in Absprache mit Frau Bundesrätin Keller-Sutter an diesen Gesprächen als Verbindungsperson der Verwaltung teil. Im Vordergrund steht die Frage des Lohnschutzes.
Gibt es eine Annäherung?
Es ist bekannt, dass die Gewerkschaften und der Gewerbeverband sehr, sehr skeptisch sind gegenüber jeglicher Aufweichung des Lohnschutzes und deshalb auch gegenüber den Vorschlägen, die auf dem Tisch liegen.