In Deutschland haben Gewalttaten gegen homo- und transsexuelle Menschen jüngst deutlich zugenommen. Im ersten Halbjahr 2017 haben die Behörden im Vergleich zum Vorjahreszeitraum fast 30 Prozent mehr Straftaten registriert, die einen klaren Bezug zur sexuellen Orientierung des Opfers hatten, wie das Bundesinnenministerium bekannt gab.
Ob Schwule und Lesben auch in der Schweiz häufiger mit Gewalt konfrontiert sind, ist unklar. Denn: Anders als bei unseren Nachbarn im Norden werden solche Straftaten bei uns bisher nicht systematisch erfasst. Dies hätte sich eigentlich ändern sollen: Vor zwei Jahren antwortete der Bundesrat auf eine Interpellation der BDP, er erachte es als sinnvoll, sogenannte «Hate Crimes» gegen LGBT-Menschen (Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transmenschen) zu erfassen und die Daten zu veröffentlichen.
Doch jetzt zerschlagen sich die Hoffnungen der LGBT-Community: Wie watson-Recherchen zeigen, hat der Bund stillschweigend beschlossen, auf die Einführung einer solchen Statistik zu verzichten. Man habe die Kantone im Frühsommer dazu befragt – und eine Mehrheit habe sich gegen die Erhebung des zusätzlichen Tatmotivs ausgesprochen, heisst es beim zuständigen Bundesamt für Statistik (BFS) auf Anfrage.
«Hauptargumente waren ein ungünstiges Aufwand-Ertrag-Verhältnis und die Schwierigkeit, eine genügende Datenqualität sicherzustellen», so Sprecher Stephan Gysi. Kritisiert wurde etwa, dass das Motiv eines Täters nicht immer offensichtlich sei. Will heissen: Nur weil ein Schwuler angegriffen wird, muss es sich nicht zwingend um eine homophob motivierte Tat handeln. Wie viel die zusätzliche Statistik gekostet hätte, kann Gysi nicht sagen.
BDP-Fraktionschefin Rosmarie Quadranti, die sich im Parlament für die zusätzliche Statistik stark gemacht hatte, versteht die Welt nicht mehr: «Es kann doch nicht sein, dass man solche Gewalttaten im 21. Jahrhundert einfach unter den Teppich kehrt.» Gerade, weil die Fälle von Hate Crime im Nachbarland Deutschland zunehmen, müssten auch die Schweizer Behörden genau hinsehen.
Die Kritik, dass die Abgrenzung der Motive schwierig sei, ist für Quadranti Augenwischerei: «Häusliche Gewalt wird schliesslich auch separat erfasst. Es leuchtet mir nicht ein, warum das in diesem Fall nicht machbar sein sollte.» Die Nationalrätin plant, mit einem weiteren Vorstoss nachzudoppeln – und die Behörden so zu zwingen, doch noch eine Hate-Crime-Statistik zu erstellen. «Verlässliche Zahlen sind das A und O, damit gute Präventionsmassnahmen ergriffen werden können», ist sie überzeugt.
Mangels einer offiziellen Statistik haben private Organisationen im letzten November eine eigene Meldestelle ins Leben gerufen. Seither würden wöchentlich Straftaten gemeldet, sagt Bastian Baumann, Geschäftsleiter des Schwulen-Dachverbands Pink Cross, der bei der Meldestelle federführend ist. Die genauen Fallzahlen werden demnächst im Rahmen eines Halbjahresberichts veröffentlicht.
«Dass sich der Bund nun davor drückt, selber eine Statistik einzuführen, zeigt, wie die Schweizer Behörden mit dem Problem umgehen: nämlich gar nicht», so Baumann. Gewalt gegen LGBT-Menschen werde negiert, obwohl bekannt sei, dass sich junge Schwule häufiger das Leben nehmen als gleichaltrige Heterosexuelle. «Dass man den Aufwand nicht auf sich nehmen mag, auf dem Polizeiposten ein zusätzliches Kreuzchen im Protokoll zu machen, zeugt von einem fatalen behördlichen Desinteresse.» Andere Länder zeigten, dass die Erfassung von Hate Crime keine Hexerei sei.
SVP-Nationalrat Pirmin Schwander steht neuen Statistiken grundsätzlich skeptisch gegenüber. Er steht hinter einer Forderung seiner Partei, wonach das Budget des Bundesamts für Statistik halbiert werden soll. Trotzdem würde er einen Ausbau der Kriminalstatistik unter gewissen Umständen begrüssen. «Damit unsere Gesellschaft sicherer wird, brauchen wir robuste und vor allem transparente Zahlen zum Thema Gewalt.»
Zusätzliche Statistiken dürften sich aber nicht auf Straftaten gegen Schwule und Lesben beschränken, so Schwander. «Auch in anderen Bereichen brauchen wir detailliertere und transparentere Zahlen – etwa, was die Nationalität der Täter bei bestimmten Delikten betrifft, insbesondere bei Eingebürgerten.» Im Gegenzug könnten viele andere Erhebungen gestrichen werden, findet Schwander. «Oder müssen wir wirklich wissen, wie viele Kilo Orangen jährlich pro Haushalt konsumiert werden?»