Hätte die Stimmbevölkerung Nein gesagt, wäre er wohl ein paar Tage untergetaucht, sagt Florian Vock, vielleicht hätte er sogar psychologische Hilfe in Anspruch genommen. Er, Präsident des nationalen Komitees «Ja zum Schutz vor Hass», hat seit Monaten die Schweiz mobilisiert, gegen Hass anzukämpfen, der seiner Community täglich entgegenschlägt. Und so geht ihm die Abstimmung «nicht nur politisch nahe, sondern auch persönlich».
Vock (oben im Bild Zweiter von links) ist 29 Jahre alt, seit über einem Jahrzehnt in der Politik. Er ist wie viele hier auf der Grossen Schanze in Bern überdurchschnittlich nervös. Weil die Resultate ihn persönlich betreffen. Um 12.09 Uhr mittags, als die ersten Hochrechnungen verkündet werden, ist er sehr erleichtert. Und sagt: «Das ist nun ein Richtungsentscheid. Ein fantastisches Resultat.»
Vielen, die kurz nach 12 den ersten Hochrechnungen entgegenbangten, mit Regenbogenfahnen und Handys bewaffnet, geht es um die grosse Symbolik. Um die Frage, ob die Schweizer Bevölkerung Minderheiten schützt. Ob für die Homo- und Bisexuellen in diesem Land immer stärker gelten kann: Gleiche Rechte für alle, egal, wen du liebst und begehrst.
«Heute tritt die gesellschaftspolitische Haltung einer ganzen Nation zutage», sagt Vock; man lebe in einer offeneren und für alle besseren Gesellschaft, wenn eine Gesellschaft Minderheiten klar und offen schützt.
Vorne auf dem Platz vor dem Restaurant scheint die Sonne auf den Asphalt, und einer sagt zum anderen: Heute haben sich die Grenzen des Sagbaren verschoben. «Wenn das Gesetz etwas nicht mehr erlaubt, ist das auch präventiv ein Signal – dann wird es auch nicht mehr so schnell einfach so passieren. Nicht nur, weil es juristisch belangt wird, sondern eben auch, weil die Schweizer Bevölkerung klar sagt: So wollen wir nicht miteinander umgehen», sagt Vock.
Mit klarer Mehrheit sagten 63,1 Prozent der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger Ja zur Erweiterung der Antirassismus-Strafnorm. Wer als Individuum wegen seiner sexuellen Orientierung verbal oder physisch angegriffen wird, kann sich schon heute strafrechtlich wehren. Der Aufruf zu Hass gegen «die Homosexuellen» aber war bisher zulässig – die Erweiterung der Strafnorm hatte zum Ziel, diese Lücke zu schliessen. Strafbar sind – wie bei Rassismus – weiterhin nur öffentliche Äusserungen oder Handlungen. Stammtischgespräche und Witze bleiben erlaubt.
Gegen die vom Parlament beschlossene Änderung des Strafgesetzbuchs hatten Vertreterinnen und Vertreter der Eidgenössisch-Demokratischen Union sowie der Jungen SVP das Referendum ergriffen. Im Vorfeld hatte die Vorlage nicht gross zu reden gegeben – sie war im Zuge der Gesamterneuerungswahlen im Oktober, der Bundesratswahlen und den Weihnachtsferien ein bisschen untergegangen. Es gab im Vorfeld kaum Zweifel daran, dass das Vorhaben an der Urne Erfolg haben wird. Die Stimmbeteiligung am Sonntag war denn auch bei lauen 41 Prozent. Die neue Regelung soll gemäss Bundesrat voraussichtlich per 1. Juli in Kraft treten.
So erfreut wie Vock sind an diesem Tag auf der grossen Schanze aber nicht alle. Der Applaus bei den ersten Hochrechnungen, die Euphorie, die strahlenden Gesichter, die lauten Jubelschreie halten sich in Grenzen, man schwenkt die Fahnen eher für die Kamera als ausgiebig für sich selbst. Vielleicht mag es daran liegen, dass die Einschätzungen im Vorfeld des Abstimmungssonntags bereits klar in Richtung Ja zeigten. Oder daran, dass einige eher die 40 Prozent Nein sehen als die 60 Prozent Ja. «Für mich heisst das: Fast die Hälfte will uns nicht schützen», sagt eine junge Frau nicht ohne Zorn in der Stimme, «eigentlich sollten es 100 Prozent sein. Ich finde das krass und enttäuschend».
Für viele war der Entscheid vor allem ein Gradmesser für die nächsten Schritte. Tamara Funiciello, SP, die einzige Parlamentarierin, die sich als bisexuell geoutet hat, eröffnete mit einer emotionalen Rede den politischen Kampf um die «Ehe für alle». Sie sagt: «Den Schwung von heute gilt es nun, ins Parlament zu tragen.» Denn: «Der Bundesrat will einfach auch noch ein wenig das Regenbogenfähnli schwingen», doch die konkreten Vorschläge seien unzureichend.
Gemäss Bundesrat soll zunächst der Grundsatz geregelt werden, dass auch gleichgeschlechtliche Paare heiraten können. Weitere Fragen – insbesondere der Zugang zur Fortpflanzungsmedizin – sollen vertieft geprüft und zu einem späteren Zeitpunkt gesondert diskutiert werden. Bundesrätin Karin Keller-Suter sagte im Anschluss an die gestrige Pressekonferenz, diese Punkte seien im Moment nicht mehrheitsfähig. «Und es gibt Vertiefungsbedarf – einige rechtliche Fragen sind noch zu klären.»
Anna Rosenwasser, Präsidentin der Lesbenorganisation Schweiz, sagt: «Wir wollen keine Partnerschaft Plus, sondern eine Ehe, die uns die gleichen Rechte und Pflichten gibt wie jedem anderen heterosexuellen Paar.» Zum Punkt Samenspende für lesbische Paare sagt sie, die Gegner würden mit einer falschen Idee der Natürlichkeit argumentieren. «Dabei bekommen auch heterosexuelle Paare heutzutage nicht auf dem natürlichen Weg ein Kind». Rosenwasser steht jetzt mit Prosecco-Glas unter einem goldenen Konfetti-Regen, der aus der Kanone schiesst, «ein guter Tag, und noch viel zu tun».
Ahso
Wenn sich ein Paar scheiden lässt, müssen wir ihnen also die Kinder wegnehmen? Wenn sich einer der beiden wenig kümmert, Kinder wegnehmen? usw
Ich bin schockiert, zu was für Unsinn heute noch Ja gesagt wird. Die Fähigkeit zur Reflexion und Nachdenken ist bei vielen wohl einfach nicht da.
"Salamitaktik!" wird die EDU brüllen. Aber was die brüllen interessiert (spätestens seit gestern) nur wenige.