Ein turbulentes Jahr geht zu Ende. Viele Menschen fürchten sich vor dem
Islamischen Staat, Ebola, dem Konflikt in der Ukraine. Spüren Sie das auch in der
UNO?
Paul Seger: Generalsekretär Ban Ki Moon hat dieses Jahr als eines der intensivsten in Bezug auf die
Probleme und Krisen bezeichnet. Die UNO ist aber seit jeher mit Konflikten, Krisen und
Kriegen konfrontiert. Die Welt hat sich nicht radikal verändert. Wir haben in Syrien einen
Dauerkonflikt seit 2011, wir hatten neue Gewalt in Gaza, aber die Probleme im Nahen
Osten verfolgen uns seit 60 Jahren. Es gab auch positive Entwicklungen, etwa in Afrika. In
der Zentralafrikanischen Republik und in Mali ist es ruhiger geworden. Es gibt Krisen, die
teilweise eruptionsartig ausbrechen, etwa das Aufkommen des IS.
Beschäftigt einer dieser Krisenherde Sie persönlich besonders stark?
Der Nahe und Mittlere Osten bereitet derzeit allen am meisten Kopfzerbrechen, auch der
Schweiz. Das betrifft nicht nur Syrien, sondern auch die Situation im besetzten palästinensischen Gebiet, einschliesslich Gaza. Und nun erleben wir das Aufkommen des
IS und die Auswirkungen auf den irakischen Raum und bis in die Türkei.
Kenner der Region gehen davon aus, dass die Entwicklungen und Umbrüche uns
noch jahrelang beschäftigen werden.
Prognosen sind immer schwierig, vor allem wenn sie die Zukunft betreffen... Das gilt
besonders für den Nahen Osten. In Syrien aber ist die Lage bei allem Leid und aller Dramatik fast
stabiler als vor ein oder zwei Jahren. Damals sprach man vom unmittelbaren Zerfall
des Landes und vom Sturz des Assad-Regimes. Heute redet praktisch niemand mehr von
Letzterem.
Am Syrien-Konflikt erkennt man die Grenzen der Vereinten Nationen. Russland und
China haben fast jede Resolution im Sicherheitsrat mit dem Veto verhindert.
Das trifft leider zu. Eine politische Lösung für Syrien ist momentan extrem schwierig. Nach
Kofi Annan und Lakhdar Brahimi haben wir mit Staffan de Mistura bereits den dritten UNO-Vermittler. Derzeit versucht man, die Lage mit kleinen Schritten weiter zu stabilisieren und
hoffentlich einer Lösung zuzuführen. Die Voraussetzungen sind eigentlich vorhanden, alle
Konfliktparteien haben sich zu einem friedlichen Übergang zu einer demokratisch
gewählten und legitimierten Regierung bekannt. Das Problem scheint darin zu liegen, dass
die syrische Regierung erst die militärische Lage bereinigen und danach die politischen
Aspekte angehen will und die Opposition gleichzeitig erklärt, ohne politische Lösung werde
es weiterhin Gewalt geben. Es ist die alte Frage nach dem Huhn und dem Ei.
Die Blockade im Sicherheitsrat ist aber eine Tatsache.
Das betrifft die politische Lage. Im humanitären Bereich hingegen gab es durchaus
Fortschritte. Auch die weitgehende Zerstörung der chemischen Waffen der syrischen Armee war ein Erfolg. Und gegen die Vermittlungsfunktion der UNO hat sich niemand
ausgesprochen. Es gibt unter den ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrats einen
Grundkonsens, dass man bei allen Differenzen über die Ausgestaltung einer politischen
Lösung an einer solchen arbeiten muss.
In solchen Fällen hört man immer wieder den Vorwurf, die UNO tue nichts und sei
deshalb auch für nichts zu gebrauchen.
Dieser Vorwurf kommt sehr schnell, ist aber nicht berechtigt. In Syrien hat man bei der
humanitären Hilfe wichtige Durchbrüche erzielt. Erstmals in seiner Geschichte hat der
Sicherheitsrat beschlossen, dass Hilfslieferungen über die Grenze eines Landes auch
ohne Zustimmung der betreffenden Regierung erlaubt werden. Die UNO und der
Sicherheitsrat sind keine Weltregierung, sondern das Spiegelbild der politischen
Grosswetterlage. Wenn sich die USA, China und Russland einig sind, ist sich der
Sicherheitsrat einig. Sonst kann er nicht agieren. Die UNO ist so stark oder schwach, wie
die Staaten sie haben wollen. Wenn wir bereit sind, Souveränität und Kompetenzen an die
UNO abzutreten, haben wir eine starke Organisation.
Die Zusammensetzung des Sicherheitsrats basiert auf der Weltordnung nach dem
Zweiten Weltkrieg und ist nicht mehr zeitgemäss. Wie sehen Sie die Chancen für
eine Reform?
Die Stimmen werden lauter, die eine Änderung fordern. Staaten, die politisch und
wirtschaftlich wichtiger wurden, möchten im Sicherheitsrat vertreten sein, damit er die
heutige Welt wiedergibt. Ich denke da an Brasilien, Indien oder Südafrika. Diese
Diskussion läuft bereits seit 20 Jahren, und über die Diagnose sind sich alle einig: Der
Sicherheitsrat muss repräsentativer werden. Bei der Therapie aber beginnt die
Uneinigkeit: Soll der Rat nur um nicht-ständige Mitglieder erweitert werden oder auch um
ständige, die dann das Vetorecht haben werden?
Die heutigen Vetomächte wollen ihre Macht nicht teilen.
Ohne Zustimmung der fünf Vetomächte wird es keine Änderung der UNO-Charta geben.
Man muss deshalb eine Lösung finden, die sie unterstützen können.
Sie haben es erwähnt, darüber wird seit 20 Jahren geredet.
Deshalb konzentriert sich die Schweiz auf die Reform der Arbeitsmethoden im
Sicherheitsrat. Selbst wenn man ihn um fünf oder zehn Mitglieder erweitert, wird die
grosse Mehrheit der UNO-Mitglieder nicht dazugehören. Laut UNO-Charta handelt er aber
im Namen und Auftrag aller Mitgliedsländer. Wir finden es darum nur legitim und logisch,
dass er sie vermehrt einbezieht. Aus Sicht der Schweiz muss er offener, inklusiver,
transparenter und damit auch ein wenig demokratischer werden.
Eine Kandidatur der Schweiz für den Sicherheitsrat steht im Raum. Wie stehen Sie
dazu?
Die Schweiz kandidiert für einen nicht-ständigen Sitz in der Periode 2023/24. Es ist
logisch und konsequent, dass ein UNO-Mitgliedsstaat irgendwann im
Sicherheitsrat einsitzen will.
Die Verfechter einer strikten Neutralität sehen bei dieser Perspektive rot.
Sachlich betrachtet ist die Neutralität für eine Mitgliedschaft im Sicherheitsrat kein
Problem. Während den beiden Weltkriegen oder im Kalten Krieg konnte sich die Schweiz
neutral verhalten. Der Auftrag der UNO aber ist, die Kriege der Vergangenheit mit einem
System der kollektiven Sicherheit zu überwinden. Und der Sicherheitsrat handelt wie
erwähnt im Namen aller 193 Mitglieder mit dem Auftrag, den internationalen Frieden und
Sicherheit zu sichern. Wenn er Zwangsmassnahmen beschliesst, inklusive militärische,
handelt er darum nicht als Kriegspartei, sondern als eine Art Polizist, der Recht und
Ordnung wiederherstellen soll. Daher wird in solchen Fällen das Konzept der Neutralität
überhaupt nicht tangiert.
Gibt es dafür ein konkretes Beispiel?
Die Invasion Kuwaits durch den irakischen Diktator Saddam Hussein im Jahr 1990. Dabei
wurde internationales Recht flagrant gebrochen. Weil Saddam Hussein nicht nachgeben
wollte, hat der Sicherheitsrat als Ultima Ratio militärische Zwangsmassnahmen
beschlossen. Die Schweiz kann in solchen Fällen nicht einfach abseits stehen. Wir haben
selber ein Interesse daran, dass die Weltgemeinschaft kleinen Ländern zu Hilfe kommt,
die angegriffen werden. Es gibt da also wie erwähnt keinen Widerspruch zur Neutralität.
Heute haben wir aber wieder einen solchen Fall, die Annektierung der Krim durch
Russland. Die UNO kann nichts unternehmen, weil Russland das Veto im
Sicherheitsrat besitzt.
Wenn der Sicherheitsrat handlungsfähig ist, trägt die Schweiz als UNO-Mitglied heute
schon die Entscheidungen mit. Wir sind durch die UNO-Charta dazu verpflichtet,
Sanktionen umzusetzen. Wenn der Rat durch ein Veto blockiert ist, haben wir einen
klassischen zwischenstaatlichen Konflikt. In diesem Fall ist das Neutralitätsrecht
anwendbar. Ich verweise wieder auf den Irak: 2003 hat der Sicherheitsrat die militärische
Aktion der US-geführten Koalition nicht bewilligt. Damals hat sich die Schweiz für neutral
erklärt und ihren Luftraum für Überflüge nicht zur Verfügung gestellt.
Die Schweiz ist seit zwölf Jahren Mitglied der UNO. Hat sich der Beitritt gelohnt?
Eindeutig. Als neutrales Land, das keinem politischen oder wirtschaftlichen Pakt angehört,
können wir in der UNO eine konstruktive und solidarische Rolle spielen. Es geht dabei auch
um Eigeninteressen. Kaum ein Land ist international so vernetzt wie die Schweiz, wir
verdienen jeden zweiten Franken mit dem Ausland. Unsere Exportindustrie ist auf ein
Umfeld angewiesen, in dem Ordnung, Recht und Sicherheit herrschen. Und wer setzt sich
dafür ein? Die UNO.
Was die Schweiz für 2013 immerhin rund 125 Millionen Franken kostete.
Das entspricht 18 Franken pro Kopf, dem Gegenwert eines Kinoeintritts. Das
Bruttoinlandprodukt pro Kopf beträgt rund 70'000 Franken, wovon etwa die Hälfte im
Ausland erwirtschaftet wird. Die 18 Franken Mitgliederbeitrag für die UNO sind im Vergleich
gut investiertes Geld.
Derzeit gibt es in der Schweiz aber eine Tendenz zur Abschottung.
Man kann nicht eine rein wirtschaftliche Optik einnehmen und ausblenden, was um uns
herum geschieht. Beispiel Libyen: Nach Beginn des Aufstands gegen Muammar Gaddafi
im Frühjahr 2011 ist der Ölpreis um 30 Prozent nach oben geschnellt. Das hat man auch
in der Schweiz im Portemonnaie zu spüren bekommen. Durch das Eingreifen des
Sicherheitsrats hat sich die Lage zumindest vorübergehend stabilisiert, der Ölpreis sank.
Sicherheit und Wohlstand gehen Hand in Hand, weshalb wir ein eigenes Interesse daran
haben, durch die Mitgliedschaft im Sicherheitsrat einen Beitrag zu leisten für eine Welt, in
der Stabilität, Frieden und Ordnung herrschen.
Sie halten also nichts von der Idee, die Schweiz müsse sich nur möglichst klein
machen, dann geschehe ihr auch nichts?
Wir sind ein Kleinstaat von der Grösse und Bevölkerungszahl her, gehören aber zu den
führenden Ländern in Sachen Wirtschaft und Finanzkraft. In einer globalisierten Welt sind wir
auf ein politisch stabiles Umfeld angewiesen. Je besser es der Welt geht, desto besser
geht es der Schweiz. Das einzige Forum, in dem praktisch alle Staaten der Welt vertreten
sind, um über die Probleme der Welt zu diskutieren und nach einer Lösung zu suchen, ist
die UNO. Bei allen Schwächen und Mängeln, die man durchaus kritisieren kann: Wenn es
die UNO nicht gäbe, müsste man sie erfinden.
Die Schweiz trat der UNO als Nachzüglerin bei. Hat ihr das nicht geschadet?
Das glaube ich nicht. Wir sind das 191. von 193 Mitgliedern, aber das realisieren viele gar
nicht. Dank dem Standort Genf wurden wir stets als der UNO nahestehend betrachtet. Wir
waren nicht einfach ein Beobachter, sondern Mitglied in vielen Unterorganisationen. Wir sind nur der politischen UNO ferngeblieben. Und wir sind das einzige Land, in
dem das Volk über den Beitritt entscheiden konnte. Das verleiht unserer Mitgliedschaft
eine demokratische Legitimation.
Ihre Amtszeit nähert sich dem Ende. Was bleibt Ihnen in besonders guter
Erinnerung?
Ein Highlight war die Präsidentschaft von alt Bundesrat Joseph Deiss in der
Generalversammlung im Jahr 2010/11. Feedback und Echo aus den Reihen der Mitglieder
sind auch heute noch, vier Jahre später, sehr positiv. Sie wird als mustergültige
Präsidentschaft betrachtet.
In der Schweiz selber hat man sie dagegen kaum zur Kenntnis genommen.
Das Echo im Ausland war bedeutend stärker und positiver als in der Schweiz. Man sieht
einmal mehr, dass der Prophet im eigenen Land wenig zählt.
Gibt es weitere Highlights?
2012 hat die Gruppe der Small 5 (Anm. der Red.: Costa Rica, Jordanien, Singapur,
Liechtenstein, Schweiz) eine Resolution zu Reformen der Arbeitsmethoden des
Sicherheitsrats präsentiert. Wir mussten sie zurückziehen, doch die Bemühungen für mehr
Transparenz im Sicherheitsrat waren eine sehr positive Erfahrung. Wir haben uns trotz
dem zwischenzeitlichen Scheitern wieder aufgerappelt und sind noch stärker geworden.
Die Gruppe mit dem neuen Namen ACT (Accountability, Coherence, Transparency) zählt
inzwischen 24 Staaten und hat deutlich grösseren Einfluss auf den Sicherheitsrat als
zuvor. Hier konnten wir etwas bewegen und erreichen.
Ein weiteres Projekt ist die Reform der Wahl des Generalsekretärs.
Sie verläuft heute ähnlich intransparent wie jene des Papstes, nur dass der weisse Rauch
aus dem Sicherheitsrat aufsteigt und nicht aus dem Vatikan. Der UNO-Generalsekretär ist
das vielleicht wichtigste Amt auf der Welt, es ist nur logisch und legitim, mehr Transparenz
und ein wenig Demokratisierung in den Prozess einbringen zu wollen. Ich bin überzeugt,
dass die nächste Wahl Ende 2016 anders verlaufen wird als bisher.
Haben Sie dafür konkrete Anhaltspunkte?
In Gesprächen mit vielen Kollegen und Kolleginnen stösst die Forderung nach mehr
Transparenz auf ein sehr grosses Echo. Der Nährboden für eine Veränderung ist
vorhanden. Wie genau das neue Modell aussehen wird, kann ich heute noch nicht sagen.
Natürlich wird es keine Revolution geben. Denn das Vorrecht des Sicherheitsrats, eine
Wahlempfehlung an die Generalversammlung abzugeben, ist in der Charta verankert. Ich
kann mir aber vorstellen, dass es Hearings mit potenziellen Kandidaten und Kandidatinnen
geben wird. Dadurch erhält der Sicherheitsrat ein Feedback, wer in der
Generalversammlung mehr Rückhalt geniesst und wer weniger. Darüber wird er sich nicht
einfach hinwegsetzen können.
Sie sind sehr aktiv auf Twitter. Kollidiert das nicht mit ihrer Rolle als Diplomat?
Ich bin nicht der Einzige, sondern in der UNO in bester Gesellschaft. Twitter ist ein
interessantes Medium für kurze, prägnante und auch etwas humorige Botschaften. Mit
Facebook kann ich nichts anfangen, aber Twitter interessiert mich, auch als
Informationsmedium. Man ist auf einen Blick über aktuelle Ereignisse informiert.
Sie werden auf Ihrem nächsten Posten nicht nur für Laos und Kambodscha, sondern auch für Myanmar zuständig sein. Dort gibt es derzeit grosse Veränderungen.
Sie sind ein Grund, warum das Land auf meiner Wunschliste stand. Solche Situationen
des Umbruchs und Übergangs sind für einen Diplomaten das Salz in der Suppe. Im
nächsten Herbst finden Wahlen statt, alle hoffen, dass sie offen, fair und demokratisch
verlaufen werden.
Der Wechsel vom Prestigeposten in New York wird bedeutend sein.
Ich habe nirgends so viel gelernt als Diplomat wie hier bei der UNO, obwohl ich seit fast 30
Jahren in diesem Metier tätig bin. Es gibt kaum einen anderen Ort, an dem man derart
interessante Gesprächspartner findet. Und die Stadt New York wird mir fehlen, mir steht in
Yangon ein ziemlicher Kulturschock bevor. Dennoch reizt es mich, wieder einmal «Feldarbeit» zu machen. Den unter Diplomaten scherzhaft «Estée Lauder
Circuit» genannten Ablauf New York – Paris – London überlasse ich gerne den anderen.