Es ist eine Formel, man muss gar nicht darüber nachdenken, sie geht so sicher auf wie 1 plus 1 gleich 2: Machst du den Mund auf, kommt der Hass. Alles, was eine Politikerin in der Schweiz tun muss, nachdem sie sich öffentlich geäussert hat, im Fernsehen, in einer Zeitung, auf Social Media, ist, sich mental und emotional vorzubereiten. Auf das, was kommt.
Eine Beleidigung. Ein Kommentar zu ihren Haaren. Ein Foto eines erigierten Penis. Oder die Drohung, sie zu vergewaltigen. Einfach so.
Schweizer Politikerinnen und Politiker sind viel Kritik ausgesetzt. Sie sind exponiert – so weit nichts Neues. Vergleichsweise neu sind die Angriffe im Netz. Die Heftigkeit, die Flut an Kommentaren. Und sie betreffen Frauen auf eine härtere und viel sexualisiertere Art und Weise. Studien zu Cybermobbing und Cyberstalking gibt es in der Schweiz bisher keine. Internationale Auswertungen zeigen indes: Eine Frau, die sich öffentlich positioniert, ist bis zu zehn Mal stärker unter Beschuss als ein Mann.
Im Zuge der MeToo-Debatte 2018 wurde Parlamentarierinnen auf Bundesebene mehr Schutz zugesichert. Eine Stelle, an die sie sich wenden können, wenn eine Hand auf ihren Beinen landet, die da nicht hingehört. Oder sie in der Wandelhalle verbal belästigt werden. Das war gut gemeint. Ausgeklammert wurde jedoch, dass die krassesten Übergriffe im Netz stattfinden. Oft anonym. Und in hunderten, tausenden Kommentaren.
Eine Gruppe um die Nationalrätinnen Ada Marra (SP/VD) und Kathrin Bertschy (GLP/BE) will das nun ändern. Wie, ist noch unklar. Aber es sind Gespräche im Gang. Mit zwei Zielen: konkrete Hilfe für Parlamentarierinnen und Parlamentarier im Umgang mit Hass im Netz. Und die Änderung des Gesetzes. Cybermobbing und Cyber- stalking sind bisher keine eigenständigen Straftatbestände – die gesetzliche Lage, so meint Bertschy, hinke der Realität hinterher. Eine klare Kategorisierung mache es Opfern von Angriffen im Netz nicht nur einfacher, sich zu wehren, sondern hätte auch Signalwirkung: Wie du mit mir sprichst, was du da schickst, ist strafbar.
Kürzlich hat im Zimmer 286 des Parlamentsgebäudes in Bern ein Seminar zum Thema Cyber-Stalking stattgefunden, mit dem Titel: «Wie kann man sich wehren?», mit dabei waren unter anderem Jolanda Spiess-Hegglin vom Verein Netzcourage, die eingeladen war, um von ihren eigenen Erlebnissen zu berichten, IT-Sicherheitsbeauftragte, Experten von der Bundespolizei Fedpol, Florian Schütz, Delegierter des Bundes für Cyber-Sicherheit. Man war sich einig, dass nun etwas getan werden muss. Das Seminar, als Weiterbildung deklariert, war eine Antwort auf die Motion von Nationalrätin Ada Marra.
Sie hatte das Parlament ersucht, einen Dienst einzurichten, der zuständig wäre für die Vorbereitung von möglichen Anzeigen wegen Drohungen oder Beleidigungen, die Abgeordnete in Ausübung ihres Amtes erhalten. Am 4. März zog sie ihre Motion zurück. «Ich wusste, dass das Büro des Nationalrats den Antrag ablehnen wollte, und ich wollte nicht das Risiko eingehen, dass das Parlament bei einem solchen Thema Nein sagen würde», sagte Marra im März gegenüber «Swissinfo». Und weil das Büro signalisiert hatte: Wir werden etwas tun.
Langsam kommt nun also Bewegung in eine Angelegenheit, die viele schon Jahre umtreibt. Sexualisierte Gewalt im Netz sei keine Bagatelle, sagt Tamara Funiciello (SP/BE), die wohl am Härtesten angegriffene Politikerin der Schweiz. «Ich muss sie nicht erdulden, nur weil ich in der Öffentlichkeit stehe. Wir müssen schauen, dass das jetzt aufhört. Wir können das Problem nur angehen, wenn wir es klar als solches benennen.»
Seit sie öffentlich darüber spreche und auch entsprechend anzeige, seien die Angriffe zurückgegangen. Das bestätigt auch Ada Marra. Der Hass sei viel weniger geworden, seit sie im März die Hassmeldungen gegen sie öffentlich vorgelesen hatte. «Die meisten Leute, die einfach so ins Internet schreiben, realisieren oft gar nicht, was sie da tun. Wenn dann ein Brief der Staatsanwaltschaft kommt, sind sie ganz erstaunt. Und oft zeigt das dann auch Wirkung», sagt sie. Und fügt an: «Ich bereue zutiefst, dass ich nicht früher reagiert habe. Am Anfang habe ich noch gelacht, als die ersten Kommentare kamen. Ich habe nicht realisiert, wie schlimm das ist. Wie sehr mich das destabilisiert. Irgendwann lachte ich nicht mehr.»
Nach einer 1.-August-Rede 2017 hatte sie 3000 belästigende Kommentare erhalten, sie sagt, sie habe angefangen, den Menschen zu misstrauen. «Es ist nicht normal, das aushalten zu müssen. Viele denken, man dürfe sich nicht beklagen, weil man doch privilegiert ist, überhaupt Politik machen zu dürfen. Dabei realisieren wir oft nicht: Wenn wir für uns selbst einstehen, stehen wir für alle ein. Wir haben eine Vorbildfunktion in der Gesellschaft.»
Auch Kathrin Bertschy ist betroffen. Auch sie eine, die lieber über andere sprechen will als über sich selbst. Die sagt: Es müsse etwas passieren, weil Frauen damit mundtot gemacht würden und das wiederum der Demokratie schade. «Frauen äussern sich nicht mehr, weil sie im Vorfeld schon überlegen, was damit alles auf sie zukommt – das drängt sie aus der Öffentlichkeit.» Viele gingen deshalb schon gar nicht erst in die Politik.
Das Thema Hass im Netz ist für die Politikerinnen ein zweischneidiges Schwert. Nach all den Jahren, die man brauchte, um als Politikerin ernst genommen zu werden, an die sogenannten harten Dossiers zu kommen – um dann von den Journalisten nur danach gefragt zu werden, ob man selbst auch belästigt wurde? Es ist diese Opferrolle, in die viele Politikerinnen nicht gedrängt werden wollen. Der Sprecher von Nathalie Rickli lässt ausrichten, als Gesundheitsdirektorin äussere sie sich zu gesundheitspolitischen Themen – daher keine Zeit für ein Gespräch.
Einige sagen am Telefon, sie seien «im Rahmen des Üblichen betroffen», «auf dem Niveau der anderen Kolleginnen», weniger als andere im Parlament. Um dann auf Nachfrage zu präzisieren: Ja, auch hier die Penisbilder, die sexistischen Kommentare, Wörter wie «Hure», Drohungen. Und so reden sie gar nicht erst öffentlich darüber. Und halten damit das Problem auch ein Stück weit aufrecht. Viele sehen es immer noch als private, als individuelle Angelegenheit. Als etwas, mit dem man eben umgehen können muss, wenn man stark sein will, als Führungsfigur gelten, als unerschütterlich.
Tamara Funiciello sagt auch nicht, was sie alles an Nachrichten erhält. Sie will keine konkreten Beispiele nennen, weil die Leute sonst anfangen würden, Hass voyeuristisch zu konsumieren. Aber ja, natürlich, die ganze Palette, mittlerweile sieht und hört sie aber kaum mehr davon, erstens, weil die Leute merken würden, dass sie sich wehre und sich das herumspreche, und zweitens, weil sie Freiwillige im Hintergrund habe, die ihre Social-Media-Accounts betreuen und filtern. Sie ist nicht die Einzige im Parlament, die mittlerweile mit Hilfe von Assistenten und Freiwilligen den Hass von sich fernhält. Das ist besser für die Psyche. (aargauerzeitung.ch)
Frauen sollten diese Angriffe thematisieren. Und nicht aus der Opferrolle hinaus. Das geht. Man darf ruhig sagen, so redet und kommuniziert man nicht mit mir. Und Anzeigen erstatten.